[159] 55. Die Schildkröte und der Riese

Die Schildkröte saß in einem Baumloch und spielte auf ihrer Flöte. Der Riese hörte es und sagte: »Dies ist niemand anderes als die Schildkröte. Ich will sie fangen.« – Er ging an das Loch. Die Schildkröte spielte ihre Flöte: fing-fing-fing-kulo-fong-fing! Der Riese rief: »Schildkröte!« – Diese antwortete: »U!« – »Komm, Schildkröte, wir wollen unsere Kraft erproben!« – Die Schildkröte antwortete: »Wir wollen uns messen, da du es so willst!«

Der Riese ging in den Wald, schnitt eine Liane ab und brachte sie an das Ufer des Flusses. Dann sagte er zur Schildkröte: »Wir wollen es versuchen, Schildkröte, du im Wasser, ich auf dem Lande!« – Die Schildkröte sagte: »Gut, Riese.« – Die Schildkröte sprang ins Wasser mit der Liane und band sie an den Schwanz eines großen Fisches. Dann ging sie heimlich ans Land und verbarg sich im Walde. Der Riese zog an der Liane. Der Fisch zog auch und schleppte den Riesen an dem Hals bis ins Wasser. Der Riese zog wieder, als wollte er den Schwanz des Fisches an das Land ziehen. Der Fisch zog wieder und riß den Riesen am Halse bis ins Wasser. Die Schildkröte sah es vom Walde aus[159] und lachte. Als der Riese schon müde war, sagte er: »Es ist genug, Schildkröte!« – Die Schildkröte lachte, sprang ins Wasser und löste die Liane vom Schwanze des Fisches. Dann ging sie ans Land. Der Riese fragte sie: »Bist du müde, Schildkröte?« – Diese antwortete: »Nein, wovon soll ich müde sein?« – Da sagte der Riese: »Jetzt weiß ich es sicher, daß du mehr Mannes bist als ich. Ich ziehe fort, lebe wohl!«

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 159-160.
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