[198] 73. Der Alligator und die streitbaren Weiber

Die Weiber eines Dorfes pflegten zu gewissen Zeiten nach einer Lagune zu gehen, wo ein großer Alligator hauste. Hier hatten sie sich Hütten errichtet mit Kochgeräten, Töpfen usw. Federschmuck und schöne Leibgürtel nahmen sie dorthin mit, auch Moschus, den Körper einzureiben. Eines der Weiber wurde mit allen diesen Zierraten ausgestattet und ihre Haut mit Moschus bestrichen. So blieb sie am Ufer sitzen, während die übrigen im Walde Früchte sammelten. Andere fischten oder bereiteten Speisen zu.

Das Weib im Festschmuck rief, sobald sich alle entfernt hatten: »Alligator komm, bringe Fische!« – Der Alligator antwortete: »Ich komme.« – Er kam dann hervor, ein Bündel Fische tragend. Dann legte er seinen Kopf der Frau auf den Schenkel, ließ sich von ihr die Parasiten absuchen und schlief ein. Die anderen Weiber bereiteten unterdessen[198] das Mahl und gingen nach Beendigung des Festes nach Hause, indem sie den Männern nur die leeren Fruchtschalen brachten. Das geschmückte Weib blieb mit dem Alligator zurück und folgte erst später.

Schließlich wunderten sich die Männer, daß die Frauen immer nur mit leeren Schalen zurückkamen, und beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Einer befahl seinem Sohn, die Mutter zu begleiten. Nach langer Weigerung ward er zugelassen und erzählte den Männern dann, was er gesehen hatte.

Zwei Tage später gingen diese selbst zusammen an den See, während die Frauen zurückbleiben mußten. Auch sie rieben sich mit Moschus ein und riefen den Alligator. Dieser kam wie sonst, brachte Fische und legte sich zum Schlaf nieder, wurde nun aber von den Männern mit einer Keule getötet und in den Wald geworfen. Darauf gingen die Männer jagen, töteten noch andere Alligatoren, Reiher, Enten, sowie Aasgeier und kehrten mit der Beute zurück. Spöttisch riefen sie den Weibern zu: »Ihr habt uns betrogen; jetzt könnt ihr Aasgeierfleisch essen!«


73. Der Alligator und die streitbaren Weiber

Andern Tags zogen die Weiber wieder aus; aber der Alligator erschien nicht. Seine Leiche wurde endlich im Walde gefunden. Voll Zorn eilten sie nach Hause, machten sich Pfeile und Bogen und forderten die Männer zum Kampf heraus. Die Männer nahmen die Sache nicht ernst und legten die Pfeile umgekehrt auf den Bogen, um keinen Schaden zu tun; die Weiber aber schossen mit der Spitze und töteten die Männer bis auf wenige, die entkamen. Die Weiber zogen nun den Fluß hinab. Man hat nichts mehr von ihnen gehört.

Solange der Alligator gelebt hatte, sprachen alle Alligatoren. Seitdem spricht keiner mehr.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 198-199.
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