[246] 88. Wie der Hirsch die Kaschinaua den Ackerbau lehrte

Meine Vorfahren hatten in der Zeit des Hungers nichts zu essen. Sie schlugen Jacypalmen nieder, schälten die Rinde ab und aßen sie. Sie aßen Kokos. Sie aßen Urikury. Etwas anderes hatten sie nicht.

Ein Mann ging Urikury holen und stellte sich unter den Baum und aß von den Früchten. Da erblickte ihn der Hirsch. Der Mann erschrak und blieb stehen. Der Hirsch fragte ihn: »Was machst du denn da?« Der Mann antwortete: »Ich habe in dieser Hungerzeit nichts zu essen. Mich hungerte. So kam ich, um Urikury zu holen.« »Hast du denn keine Pflanzung?« fragte der Hirsch weiter. »Ich weiß nicht, wie man eine Pflanzung macht,« erwiderte jener. Darauf sprach der Hirsch: »Mann, ich werde dir eine Pflanzung machen.« Der Mann horchte auf, nahm seine Urikuryfrüchte auf den Rücken und ging davon.

Er kam nach Hause und sprach zu seinen Leuten: »Freunde, wir werden in der Zeit des Hungers nicht wieder Hunger leiden!« Diese fragten ihn: »Warum werden wir denn nicht mehr Hunger leiden?« Der Mann antwortete: »Ich war[246] Urikury holen und stand unter dem Baum und aß von den Früchten. Da kam der Hirsch zu mir. Ich erschrak und blieb stehen. Er fragte mich: ›Was machst du denn da?‹ Ich antwortete ihm: ›In dieser Zeit des Hungers habe ich nichts zu essen. Ich habe keine Feldfrüchte. Mich hungert. So kam ich, um Urikury zum Essen zu holen.‹ Der Hirsch sagte, er selbst würde mir eine Pflanzung machen, damit wir nicht mehr Hunger zu leiden brauchten.«

Da kam der Hirsch an als alter Mann mit rötlichem Haar und einem Bäuchlein. Er ging an einem Stock. Meine Leute erblickten ihn und sprachen: »Dort kommt ein altes Männchen!« Eine Frau sagte: »Wer kommt denn da?« Der Alte blieb vor dem Hause stehen und sprach: »Da bin ich!« Ein Mann antwortete ihm: »Komm her, Alterchen!« Er band dem Alten eine Hängematte an und setzte ihn darauf, damit man ihm Essen brächte. Dann sagte er: »Warum bist du denn in mein Haus gekommen? Ich habe in dieser Hungerzeit selbst nichts zu essen. Ich esse nur Urikury.«

Die Männer gaben ihm Urikuryfrüchte und Jacykuchen, und der Alte aß, und dann ruhte er sich aus. Da fragte ihn einer: »Alter, wo kommst du her?« Das Alterchen erwiderte: »Ich bin kein alter Mann. Meine Name ist ›Hirsch‹. Du hast noch nicht viel Hirsche gesehen, scheint es. Mein Haar ist rot. Ich habe ein Bäuchlein. Du siehst es nicht, scheint es. Dieser Mann da war Urikury holen und stand unter dem Baum und aß von den Früchten. Da erblickte er mich, erschrak und blieb stehen. Ich fragte ihn: ›Was machst du denn da?‹ ›In dieser Hungerzeit,‹ antwortete er, ›habe ich nichts zu essen. Urikury ist meine einzige Speise. So kam ich, um Urikury zu holen.‹ Ich hörte ihm zu und sprach: ›Ich habe keinen Hunger; ich habe meine Pflanzung!‹« Da sagte einer zu den Männern: »Der Hirsch ist gekommen, um uns eine Pflanzung zu machen!«

Meine Leute ließen den Hirsch weiterreden, und dieser sprach: »Kaschinaua, schleift eure Waldmesser und gebt sie mir! Schleift eure Äxte und gebt sie mir!«[247]

Sie schliffen ihre Waldmesser und ihre Äxte und gaben sie dem Alten. Dieser sprach zu ihnen: »Kommt hinter mir her! Kommt und seht, wie ich euch eine Pflanzung mache, damit ihr sie auch so gut machen könnt!«

Der Hirsch unterrichtete sie und fuhr fort: »Kaschinaua, um eine Pflanzung zu machen, müßt ihr zunächst einen sehr guten Hügel suchen. Wenn der Hügel nichts taugt, und ihr macht eine Pflanzung darauf, so taugt auch diese nichts.« Die Männer sagten: »Ja« und blieben stehen. Da erblickte der Hirsch einen sehr guten Hügel. Er bohrte das Erdreich an. Dann schlug er den Wald nieder, bis er müde wurde, und er setzte sich hin. Da sprach einer der Männer: »Dieses rote Alterchen, dieses Dickbäuchlein, ist wirklich ein wackerer Arbeiter!«

Als die Blätter der Bäume trocken wurden, brannte der Hirsch die Rodung. Darauf sprach er zu ihnen: »Habt ihr es nun gut gesehen?« »Wir haben es gut gesehen,« erwiderten sie.

Dann sagte der Hirsch: »Jetzt gehe ich heim, um Bananenschößlinge zu holen. Ich gehe und hole Setzlinge von Makaschera, von Kara, von Bataten und von Bohnen.«

Der Hirsch ging hin, um dies alles zu holen, und kam zurück und bepflanzte das Feld. Er pflanzte Setzlinge der Makaschera; er pflanzte Bananenschößlinge; er pflanzte Bataten, Kara und Bohnen.

Alle Pflanzen gediehen, und die Männer freuten sich.

Meine Vorfahren litten nun in der Hungerzeit keinen Hunger mehr. Der Hirsch lehrte sie den Ackerbau. Sonst hatten sie in der Hungerzeit nichts zu essen. Sie litten Hunger. Der Hirsch unterrichtete sie. Wenn sie wieder Hunger haben, machen sie eine Pflanzung.

So weit weiß ich die Geschichte vom Hirsch. Mehr gibt es nicht.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 246-248.
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