[248] 89. Nasenbär, Taube und Faultier

[248] Das Faultier ist sehr faul. Es arbeitet nicht; es gibt sich nur mit dem Essen ab. Alle Jagdtiere ärgern sich über das Faultier, wenn sie ihm begegnen. Das Faultier ist außerordentlich faul.

Der Nasenbär gab dem Faultier einen Auftrag, aber das Faultier wollte nicht arbeiten; es wollte nur essen. Da prügelte es der Nasenbär. Das Faultier konnte nicht weglaufen und weinte. Da begegnete ihm die Taube und fragte es: »Faultier, warum weinst du?« »Der Nasenbär gab mir einen Auftrag, aber ich war faul. Da hat er mich geschlagen. Deshalb weine ich.« Die Taube hörte es und empfand Mitleid mit ihm. Sie weinte, und das Faultier weinte ebenfalls. Da kam der Nasenbär, schlug das Faultier und beschimpfte es: »Weine nicht so, du faules Faultier, sonst werde ich dich noch einmal verprügeln!« Die Taube hatte sich versteckt und hörte zu. Das Faultier weinte. Da kam die Taube und fragte es: »Was hat dir denn der Nasenbär getan?« »Er hat mich arg beschimpft,« erwiderte das Faultier. Da wurde die Taube zornig. Sie machte mitten auf dem Weg des Nasenbären mit Stücken Holz eine Falle. Darauf versteckte sie sich. Das Faultier hörte auf mit Weinen und verhielt sich ruhig. Der Nasenbär sprach: »Ich will einmal nach dem Faultier sehen.«


89. Nasenbär, Taube und Faultier

Er kam daher, sah die Falle nicht, die die Taube mitten auf seinem Weg gestellt hatte, und geriet hinein. Die Falle löste sich aus und schlug dem Nasenbär auf den Rücken, so daß er nicht laufen konnte. Er schrie; da lachte die Taube. Als er weinte, fragte sie ihn: »Was fehlt dir denn?« Er antwortete: »Das Faultier hat mitten auf meinem Weg eine Falle gestellt und mich beinahe totgeschlagen. Darum weine ich.« Da lachte die Taube[249] und sprach: »Du warst es doch, der das Faultier geschlagen hat; nun hat es dir das gleiche getan.« Der Nasenbär fragte die Taube: »Wer hat dir denn das gesagt?« »Ich habe es gesehen,« erwiderte diese. Da fürchtete sich der Nasenbär vor der Taube und weinte. Die Taube aber sprach: »Du bildest dir ein, sehr tapfer zu sein. Nun schau her!« Darauf ging sie weg. Auch der Nasenbär ging davon und kam nicht wieder.

Nun ging die Taube zum Faultier und sagte zu ihm: »Faultier, ich habe auf dem Weg des Nasenbären eine Falle gestellt und ihn geschlagen.« Da lachte das Faultier und sprach: »Wenn er wieder herkommt, schlag ihn noch einmal!« »Er kommt nicht mehr,« versetzte die Taube.


89. Nasenbär, Taube und Faultier

Dann fragte das Faultier die Taube: »Bist du denn so schön?« Diese erwiderte: »Ich bin sehr schön, aber ich will erst mein Kleid anziehen. Warte!« Sie ging weg. Das Faultier aber blieb da und wartete. Darauf kam die Taube zurück.

Als das Faultier sah, wie schön sie war, sagte es zu ihr: »Mache mich auch schön!« Die Taube erwiderte: »Warte, ich will Uruku holen, um dich schön zu machen!« Sie ging weg, und das Faultier freute sich und legte sich hin. Die Taube aber brachte kein Uruku, sondern Genipapo. Sie lachte auf dem ganzen Weg. Das Faultier freute sich und lachte, denn es dachte, es sei Uruku, aber die Taube bestrich es mit Genipapo. Das Faultier stand da und bildete sich ein, es sei nun schön. Die Taube aber ging weg.

Darauf kletterte das Faultier langsam und ohne anzuhalten auf einen Baum. Es kletterte bis zum Gipfel und blieb dort, da es nicht heruntersteigen konnte. Die Taube kam zurück, suchte das Faultier und fand es nicht. Sie rief nach ihm. Das Faultier erblickte sie von oben und lachte. Die Taube rief: »Wo steckst du denn?« aber das Faultier antwortete nicht, sondern lachte. Da wurde die Taube zornig und beschimpfte[250] das Faultier: »Dummes, schlechtes Faultier!« Da weinte das Faultier. Die Taube aber ging weg und sagte zu ihren Verwandten: »Das Faultier ist sehr dumm und faul. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben!«

So gewöhnte sich das Faultier daran, allein zu sein.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 248-251.
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