[260] 94. Der Krüppel, der sich in eine Schildkröte verwandelte

Es war einmal ein Mann mit verkrüppelten Beinen, der war sehr faul. Niemand gab ihm irgend etwas zu essen, und er litt alle Tage Hunger. Niemand arbeitete für ihn; niemand kochte Speise für ihn. Er ging nicht und lag immer auf demselben Platz.

Seine Leute wurden ärgerlich auf ihn. Da sprach der Krüppel zu ihnen: »Freunde, ich kann nicht für euch arbeiten; deshalb zürnt ihr mir. Ich bin ein Krüppel. Meine Beine sind klein; meine Arme sind klein. Daher kann ich nicht für euch arbeiten. Ihr ärgert euch über mich; ihr gebt mir keine Speise; ich leide Hunger. Ich habe nichts zu essen; ich trinke nur Wasser. So muß ich leiden, Freunde!«

Seine Leute hörten es, aber sie machten sich nichts daraus. Der Krüppel litt Hunger; er lag da und weinte. Da bekam einer von seinen Leuten Mitleid mit ihm und gab ihm zwei Maiskuchen. Der Krüppel aß sie und weinte nicht mehr.

Seine Leute verspotteten ihn, weil er nicht gehen konnte. Er hörte es und lag da und weinte. Dann dachte er nach und sprach: »So kann ich nicht arbeiten. Ich lag da, und meine Leute verachteten mich, und ich weinte. Jetzt gehe ich in den Wald und werde mich dort bezaubern, damit ich sie nicht mehr sehe.«

Der Krüppel kroch langsam auf allen Vieren den ganzen Weg. Mitten auf dem Weg legte er sich hin und weinte, denn er hatte Hunger und nichts zu essen.[260]

Dieser Krüppel aber hatte ein sehr starkes Herz. Als er so mitten auf dem Weg lag und weinte, kam einer von seinen Leuten und fragte ihn: »Warum weinst du?« Der Krüppel antwortete: »Meine Leute haben mich verachtet. Ich habe Hunger; deshalb weine ich.« Der Mann empfand Mitleid mit ihm. Er lud ihn auf seinen Rücken, trug ihn in sein Haus und gab ihm viel zu essen. Der Krüppel aß, bis er satt war. Darauf legte er sich nieder.

Da bekam er einen Gedanken und sprach: »So kann ich nicht gehen, weil meine Beine verkrüppelt sind. Ich will Schildkröte werden. Meine Leute werde ich belügen, damit sie mir den Rücken mit Genipapo bemalen.«


94. Der Krüppel, der sich in eine Schildkröte verwandelte

Er dachte nach und rief dann einen von seinen Leuten: »Komm einmal einer her!« Da kam einer und fragte ihn: »Warum rufst du mich?« Der Krüppel sprach zu ihm: »Ich will meine Leute besuchen. Sage doch deinem Weibe, daß sie mir den Rücken mit Genipapo bemalt!« Der Mann versprach es, ging hin zu seinem Weib und sagte zu ihr: »Frau, bemale doch den Rücken des Krüppels mit Genipapo! Er will auf Besuch gehen.«

Die Frau sagte: »Ja!« Sie holte Genipapo, zerschnitt ihn, tat ihn in einen Topf, setzte diesen aufs Feuer, zog ihn wieder weg und stellte ihn auf den Boden, damit der Genipapo sich abkühlte.

Als die Farbe kalt geworden war, fragte sie den Krüppel: »Was soll ich dir denn auf den Rücken malen?« Der Krüppel antwortete: »Male mir krumme Linien auf den Rücken, wie beim Regenbogen. Mache meine Bemalung recht schön!«

Die Frau versprach es. Sie malte den Regenbogen auf den Rücken des Krüppels und machte ihre Sache recht gut. Dann sprach sie zu ihm: »Krüppel, ich bin schon fertig mit dir.«[261]

Darauf ging der Krüppel in den Wald. Ich weiß nicht, was er tat, aber in demselben Augenblick nahm er ein Blatt in den Mund, kaute es sorgfältig und schluckte es hinunter. Dann sang er: »Schildkröte, Schildkröte will ich werden!«

Da veränderte sich sein Gesicht ganz und gar. Er zitterte und zitterte. Seine Beine zogen sich zusammen und ebenso seine Arme. Die Haut seines Rückens wölbte sich, aber die Haut seines Bauches blieb flach. Gleichzeitig verhärtete sich die Haut seines Rückens und ebenso die Haut seines Bauches, und er verwandelte sich in eine Schildkröte.

Darauf schaute er seinen Rücken an. Sein Rücken war sehr hart. An demselben Platz legte er sich nieder.

Er hatte großen Hunger. Da kroch er auf allen Vieren den ganzen Weg dahin und suchte Nahrung. Er sah nichts außer Baumohren (Pilzen). Er hatte großen Hunger, und da er nichts zu essen hatte, so aß er Baumohren.

Der Krüppel aß Baumohren und gewöhnte sich daran.

Dies ist meine Geschichte von dem Krüppel, der sich in eine Schildkröte verwandelte. Der Vater meines Vaters hat sie seinen Leuten erzählt, und ich hörte sie von meinem Vater.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 260-262.
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