6. Die Erde will das Ihre haben ...

[23] Es war einmal eine Witwe, die hatte einen Sohn. Der Junge wuchs auf und sah, daß alle um ihn, er allein ausgenommen, einen Vater hatten. »Mutter,« frug er eines Tages, »warum haben alle anderen Jungen einen Vater und ich nicht?« »Weil dein Vater gestorben ist«, antwortete die Mutter. »Also kommt er nie mehr?« »Nein, Kind, dein Vater kommt nicht mehr, aber wir gehen zu ihm. Niemand kann dem Tod ausweichen, auch wir müssen sterben und in die Erde hinein.« »Ich habe Gott nicht um mein Leben gebeten,« antwortete der Junge, »und wenn er es mir einmal gegeben hat, warum nimmt er es mir dann wieder. Ich will einen Ort aufsuchen, wo es keinen Tod gibt.«

Seine Mutter wollte ihn freilich daran hindern, daß er in der weiten Welt umherlief, um einen solchen Ort zu suchen, aber umsonst. Der Junge machte sich auf die Wanderschaft. Die ganze Welt durchwanderte er, aber wo er auch hinkam und fragte: »Gibt es auch hier einen Tod?« überall wurde ihm dieselbe Antwort zuteil: »Ja, ja«. Schon war er zwanzig Jahre alt geworden, aber den Ort der Unsterblichkeit hatte er immer noch nicht gefunden.

Eines Tages ging er über Feld und sah plötzlich vor sich einen Hirsch, dessen vielverzweigtes Geweih sich in den Wolken verlor. Dem Jüngling gefiel das Geweih des Hirsches ungemein; er näherte sich diesem und sagte? »Ich beschwöre dich beim Schöpfer der Welt, sage mir, gibt es einen Ort, wo der Tod nicht hinkommt?« »Ich bin der Bote Gottes und führe seinen Willen aus,« antwortete der Hirsch, »ich werde solange leben, bis mein Geweih an den Himmel reicht, dann aber muß ich sterben. Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben, bis zu meinem Tode; es soll dir an nichts fehlen.« »Nein,« sagte der Jüngling,[24] »entweder ewig leben oder gar nicht; sonst hätt' ich ja auch zu Hause bleiben können und brauchte nicht in der Welt umherzuwandern!« Mit diesen Worten ließ er den Hirsch stehen und ging weiter. Durch Steppen und Felder, durch Wiesen und Wälder kam er und erreichte endlich einen Abgrund; wie eine Hölle, so bodenlos gähnte er ihm entgegen. An den Rändern des Abgrundes starrten Felsen in die Höhe und auf einem derselben saß unbeweglich ein Rabe. Der Jüngling redete diesen an und frug: »Rabe, kennst du ein Land, wo es keinen Tod gibt?« »Ich bin ein Bote Gottes«, antwortete der Rabe, »und werde leben, bis ich diesen Abgrund mit meinem Mist gefüllt habe; wenn du willst, kannst du bei mir bleiben, es soll dir an nichts fehlen!« Aber der Jüngling wollte nichts davon wissen und setzte seine Wanderung fort. Bis zum Meere kam er, ohne daß er irgend jemanden getroffen hatte. Aber einmal sah er in der Ferne ein glänzendes Etwas und als er näher kam, war es ein gläsernes Haus. Es hatte keine Türen, aber bei näherem Zusehen fand er einen Strich auf dem Glase; er drückte darauf und das Haus tat sich auf. Drinnen lag ein Mädchen, so schön, daß die Sonne sogar es um seine Schönheit beneidete und blässer schien, wenn das Mädchen den Fuß vor die Schwelle setzte. Dem Jüngling gefiel die Schöne, er trat an sie heran und stellte ihr dieselbe Frage wie dem Hirsch und dem Raben. »Ein solches Land gibt es nicht,« sagte sie, »aber wozu suchst du? Bleib doch bei mir!« »Nicht um dich zu finden, bin ich ausgezogen,« entgegnete der Jüngling, »sondern das Land, wo man nicht stirbt.« »Vergebens ist dein Streben, die Erde will das Ihre haben, Unsterblichkeit wirst du nie erreichen; sag' mir, wie alt ich bin, wenn du kannst.« Der Jüngling schaute sie an; ihre junge Brust, die Farbe ihrer Wangen entzückte ihn so sehr, daß er Leben und Tod vergaß, »Mehr als fünfzehn Jahre kannst du nicht alt sein«, antwortete er ihr. »Du täuschst dich,« entgegnete sie, »ich bin am ersten Schöpfungstage erschaffen worden und bin[25] heute noch so, wie ich damals war. Man nennt mich die Schönheit; ich werde ewig so bleiben, wie ich jetzt bin. Du hättest ewig bei mir bleiben können, aber du bist die Unsterblichkeit nicht wert; das ewige Leben wird dir zum Ekel werden.« Der Jüngling gelobte ihr, nie etwas gegen ihren Willen zu unternehmen und ewig bei ihr zu bleiben.

Die Jahre verflogen eins nach dem anderen; wie Sekunden so rasch waren sie vorbei. Die Erde veränderte sich, der Jüngling aber wußte von dem allen nichts und das Mädchen blieb wie es war. So verging ein Jahrtausend. Da zog es den Jüngling in die Heimat; seine Mutter wollte er sehen, seine Freunde und Bekannten: »Ich muß jetzt gehen und meine Mutter und meine Verwandten einmal aufsuchen«, sagte er zu dem Mädchen. »Nicht einmal ihre Knochen mehr wirst du finden, wozu denn weggehen?« »Was du nur da sagst,« unterbrach er sie, »ich bin doch erst vor kurzem zu dir gekommen; wie sollten sie denn schon tot sein.« »Ich habe dir's ja gesagt, daß du nicht wert bist, ewig zu leben,« entgegnete das Mädchen, »geh nur zu, aber nimm diese drei Äpfel mit und wenn du zu Hause bist, iß sie!«

Der Jüngling verließ die Schöne und kam in seine Heimat zurück. Auf dem Wege kam er an die ihm längst bekannten Orte; der Rabe saß noch da, aber er war tot und der Abgrund voll von seinem Mist. Das Herz schnürte sich dem Jüngling zusammen, als er das sah; er wollte zurück zu seiner Schönen, aber es trieb ihn vorwärts. Über Felsen und durch Wälder und Felder kam er zum Hirsche; der stand noch da, aber er war tot, und auf sein Geweih stütze sich der Himmel. Jetzt erst glaubte der Jüngling, daß viele Jahre vergangen seien, seit er hier zum erstenmal vorbeikam. Aber weiter trieb es ihn in die Heimat. Er kam in sein Dorf, fand aber niemand Bekannten vor. Er frug nach seiner Mutter; niemand wußte von ihr, nur ein paar alte Leute sagten ihm, es habe wirklich nach einer alten Überlieferung einmal eine Frau dieses Namens gelebt;[26] aber das sei jetzt tausend Jahre her und ihr Sohn könne unmöglich mehr leben.

Niemand wollte ihm glauben, daß er wirklich der Sohn dieser Frau sei; alle dachten, er sei von Gott geschickt. Um ihn sammelten sich Menschen und begleiteten ihn. Schließlich kam er an den Ort, wo ehemals ihr Haus gestanden hatte; da waren noch verfallene, mit Moos und Nesseln bewachsene Mauern. Und nun erinnerte er sich genau wieder an das Vergangene, an seine Mutter, an seine Kindheit, und es ward ihm bitter zumute. Da fielen ihm die Äpfel ein: er aß den ersten und ein weißer Bart fiel ihm plötzlich bis auf die Brust herab; er aß den zweiten und die Knie gaben ihm nach, die Kräfte schwanden ihm und er wurde schwach und hinfällig. Er schämte sich seiner selbst und bat einen Jungen, er möge ihm den dritten Apfel aus der Tasche holen und ihn ihm geben. Und als er ihn gegessen hatte, gab er seinen Geist auf.

Die Leute aus dem Dorfe aber trugen ihn hinaus und begruben ihn um Christi willen.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 23-27.
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