1.

[264] Es war einmal ein Mann, der eine Missethat begangen hatte und deswegen sterben musste, weshalb er gefesselt im Kerker lag. Aus Furcht vor dem Tode entfloh er. Infolge der Landesgesetze ward, wenn ein zum Tode Verurteilter aus dem Gefängnis herausbrach, ein wilder Elefant losgelassen, der ihn zu Tode treten sollte. Man liess demgemäss einen wilden Elefanten los, um den schuldigen Gefangenen zu verfolgen. Als der Gefangene sah, dass der Elefant ihn beinahe erreicht hatte, stieg er in einen[264] trockenen Brunnen hinab. Auf dem Grunde befand sich jedoch ein giftiger Drache, der den Rachen nach oben aufsperrte, und überdies befanden sich auch vier giftige Schlangen in den vier Ecken des Brunnens.

Es befand sich dort die Wurzel einer Staude, und der Gefangene ergriff in seiner Herzensangst schnell diese Wurzel. Da kamen aber zwei weisse Mäuse, die an der Wurzel dieser Staude nagten. Es befand sich aber eben auch über dem Brunnen ein grosser Baum, der Honig trug, und im Laufe des Tages fiel ein Tropfen dieses Honigs in den Mund dieses Mannes.

Als der Mann diesen einzigen Tropfen gekostet hatte, dachte er bloss an diesen Honig, und erinnerte sich seiner vielfachen Qualen nicht mehr, so dass er sogar diesen Brunnen nicht mehr zu verlassen wünschte.

Deshalb nahm der Heilige (Buddha) dieses als eine allegorische Deutung an (nämlich): Der Kerker sind die drei Welten; der Gefangene die Menschen; der wilde Elefant der Tod; der Brunnen der Wohnort der Sterblichen; der giftige Drache am Boden ist die Hölle, und die vier Giftschlangen sind die vier Grossen (Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Wind). Die Wurzel der Staude ist die Wurzel des menschlichen Lebens; die weissen Mäuse sind Sonne und Mond. Sonne und Mond vernichten und verzehren das Leben des Menschen, welches sie täglich und ohne einen Augenblick inne zu halten verkürzen. Die Menschen begehren die Freuden dieser Welt und denken nicht an das grosse Übel (den Tod). Deshalb müssen die Tugendhaften stets den Tod vor Augen haben, damit sie aller Lebensbitterkeit entfliehen.151

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 264-265.
Lizenz:
Kategorien: