Die beiden Frösche.[29] 22

Es waren einmal zwei Frösche, von denen der eine ganz nahe bei der Küstenstadt Osaka in einem Graben, der andere dicht bei der schönen Hauptstadt Kioto in einem klaren Bache wohnte. Beide kamen auf den Gedanken, eine Reise zu machen, und zwar wollte der Frosch, der in Kioto wohnte, sich einmal Osaka ansehen, und der andere, der in Osaka wohnte, hatte Sehnsucht, die Kaiserstadt, Kioto, wo der Mikado residierte, zu besuchen. Ohne dass, sie sich kannten oder auch nur von einander gehört hatten, machten sie sich daher beide zu derselben Stunde auf den Weg und begannen ihre mühsame Wanderung. Die Reise ging nur langsam von statten, denn ein Berg, dessen Höhe die Hälfte des Weges war, musste überschritten werden, und diesen Berg zu erklimmen, war für die Frösche ein mühsames Stück Arbeit. Doch endlich war die Spitze erreicht, und siehe da, beide trafen sich, glotzten sich im ersten Augenblick einander an und fingen dann an, sich zu[29] unterhalten. Als nun einer dem andern den Beweggrund seiner Reise mitteilte, da lachten sie beide vor Vergnügen, setzten sich zusammen in das hohe Gras und beschlossen, erst ein wenig auszuruhen, ehe sie sich trennten. »Wenn wir nur grössere Tiere wären«, sprach der eine, »dann könnten wir von hieraus beide Städte sehen und könnten schon jetzt beurteilen, ob es sich der Mühe verlohnt, noch weiter zu wandern.« »O, dem ist abzuhelfen,« entgegnete der zweite, »wenn wir das Ziel unserer Reise von hier aus sehen wollen, so können wir uns aneinander aufrichten, und jeder blickt nach der Stadt hin, die er noch nicht kennt.« Dieser Vorschlag leuchtete dem andern Frosche gewaltig ein, und gesagt, gethan, die beiden kleinen Kerlchen stellten sich auf ihre langen Hinterfüsse und hielten sich mit den Armen umschlungen, damit sie nicht umfielen. Der Frosch, welcher aus Kioto kam, richtete seine Nase nach Osaka zu, und der, welcher aus Osaka kam, wandte die seine nach Kioto. Und so standen sie da, ganz steif, still und versunken in ihre Betrachtungen. Nun hatten die dummen Frösche aber garnicht bedacht, dass ihre grossen Augen, wenn sie den Kopf so hoch in die Luft reckten, wie sie es thaten, auf dem Rücken lagen und nach rückwärts blickten, und dass sie daher beide ihre eigene Heimat und die Stadt, von der sie ausgezogen waren, zu Gesicht bekamen. »Ach, was sehe ich?« rief der eine Frosch aus Osaka, »was sehe ich? Kioto sieht ganz so aus, wie Osaka; ich kann mir den Weg dahin ersparen!« Und ganz dasselbe sagte der Frosch aus Kioto, und wie beide zu dieser Erkenntnis gekommen waren, da liessen sie einander los, und plumps! fielen sie in das Gras. Dann machten sich die beiden Frösche eine Verbeugung, sagten einander Lebewohl und wanderten heim. Bis an ihr Lebensende haben sie geglaubt, dass die Städte Kioto und Osaka, die doch so grundverschieden sind, einander so ähnlich wären, wie ein Ei dem andern, und nie haben sie ihren Irrtum, der aus ihrer Dummheit entsprang, eingesehen.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 29-30.
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