Isanagi und Isanami.[38] 26

Im Urbeginn aller Zeiten, welcher im Grunde noch keine Zeit benannt werden kann, damals, als es vor Erschaffung der Welt nur ein wirres Chaos gab, als der Himmel noch nicht von der Erde getrennt war, als noch keine Kreatur existierte und alle Dinge vermengt, gestaltlos und planlos umherschwammen wie Wolken auf der Meeresfläche, da erstanden bereits – so erzählen die Japaner – die uranfänglichen Gottheiten. Und die allererste derselben entstammte einer riesigen Schilf knospe, die gleich einem emporstrebenden Horne inmitten des grenzenlosen Wirrwarrs aufsprosste. Aus dieser ersten Gottheit folgten[38] andere, und so vergingen drei Geschlechter, bevor die richtige Sonderung der feinen, flüchtigen Teile nach oben und der schweren, gröberen nach unten hin vor sich ging. Selbst als endlich durch die dritte Gottheit, welche man den grossen Himmelsgeist nennt, Götterpaare entstanden und am oberen Ende, wo sich jene aufstrebende Knospe einer Pflanze ähnlich ausbreitete, der Himmel sich bildete und von der unteren Welt schied, blieb auf Erden noch alles verworren, und hier war der Unterschied gegen ehedem noch gering.

So folgten – wie lange Zeit darüber verging, das kann man unmöglich angeben, ja nicht einmal ahnen – im ganzen vier Götterpaare aufeinander, und erst durch das letzte derselben ward die Erde erschaffen, wie wir sie kennen.

Das vierte Götterpaar waren der gewaltige Urgott der Luft Isanagi, und die Urgöttin der Wogen, Isanami; diesen beiden war es vorbehalten, die Erde zu bilden, und von ihnen stammen alle Menschen ab und alles, was da lebt und webt.

Einstmals wandelten beide auf der schwebenden in sieben Farben schillernden Brücke des Himmels, einem wunderbaren Gebilde, das ohne irgend welche Stütze fest dastand. Und da sprach plötzlich der Urgott der Luft, Isanagi, zu der Urgöttin der Wogen, Isanami: »Es giebt doch auch noch unter uns ein Reich; warum sollen wir nicht einmal auf dasselbe hinuntersteigen?« Und wie er also gesprochen, stiess er seine kostbare Lanze, die mit Edelsteinen und Korallen besetzt war, in die gährende Masse dort unten. Und wie er sie anrührte, da gerann es um die Spitze der Lanze herum, und das erste Eiland, die Insel Onogoro, entstand. Auf diese Insel nun stiegen die beiden Gottheiten hernieder und errichteten darauf einen hohen Pfosten, einen riesenhaft aufstrebenden Bergzacken, auf dessen Spitze sie die Himmelsbrücke legen konnten, und diesen Pfosten, diese steile Klippe machten sie zum Mittelpunkt der Erde, auf der sie nun wohnen wollten.[39]

Nun war aber durch die Weisheit des grossen Himmelsgeistes der Urgott Isanagi ein männliches Wesen und die Urgöttin Isanami ein weibliches, und so beschlossen sie, sich zu vermählen und künftig als Mann und Frau auf der Erde zu leben. Mit diesem Entschlüsse aber kam auch sofort der Gedanke in ihre Seele, dass sie feierlich und förmlich um einander zu werben hätten, und zu dem Zwecke beschlossen sie, dass Isanagi von links her, Isanami von rechts her den hohen Berg umwandeln sollte, und wenn sie sich träfen, sollte die Werbung vor sich gehen. Und so geschah es; sie gingen der eine links, die andere rechts um den Bergpfosten, und sowie sie einander ansichtig wurden, rief Isanami, die Göttin der Wogen, begeistert aus: »O, welch ein schöner Mann!« Dabei ergriff sie zuerst die Hand des Gemahls und die Vermählung ward vollbracht. Nun aber geschah es, dass sie keine so glückliche Nachkommenschaft hatten, als sie geglaubt, und das war nicht allein der Fall bei einem Sohne, den sie bekamen, sondern auch in allen andern Dingen; denn diesen höchst wunderbaren Gottheiten war es beschieden, dass sie auch Länder zur Welt bringen mussten. Nun war das Eiland, das sie erzeugten, kein grosses herrliches Reich, wie sie gehofft, sondern nur eine öde armselige Insel, das Eiland Awaji. Und der Knabe, den sie bekamen, war kein stattlicher Herrschersohn, sondern nur ein lahmes krüppelhaftes Kind. Er hiess Hiruko, und da er noch nach drei Jahren nicht zu stehen vermochte, so flochten die Eltern aus Schilf einen Kahn; in diesen setzten sie das Kind und liessen das Fahrzeug von Wind und Wellen ins weite treiben.

Dann aber stiegen der Urgott Isanagi und die Urgöttin Isanami wieder zum Himmel empor und fragten den grossen Himmelsgeist, wie es wohl zugehe, dass sie so viel Missgeschick hätten, und wie sie es anfangen müssten, glücklicher zu werden. Und da belehrte sie der erhabene und weise grosse Himmelsgeist, dass stets und immerdar der Mann den Vorrang haben müsse. Es sei nicht wohlgethan[40] gewesen, dass Isanami, das Weib, die Werbung begonnen habe; es sei Sache ihres Herrn und Gebieters Isanagi gewesen, und aus dieser Ursache sei all ihr Misserfolg hervorgegangen.

So belehrt, zogen beide eilig wieder zur Erde hinab, um ihre Werbung aufs neue zu beginnen. Und abermals wandte sich Isanagi von der Linken und Isanami von der Rechten um den zuerst geschaffenen Grundpfeiler der Erde, und als sie nun sich trafen, rief zuerst der Urgott der Luft, Isanagi: »O, welch ein schönes Weib!« Und nun waren sie abermals vermählt, und viel glücklicher als ehedem. Jetzt bekamen sie als Nachkommen die schönen acht grossen Inseln des Reiches Japan, zuerst die herrliche fruchtbare Insel von Yamato – dem alten Mittelpunkte der Hauptinsel, – dann Schikoku, Kiuschiu, Oki, Sado und andere Inseln. Die kleinen Felseilande aber gerannen von selbst aus der Brandung an den Küsten jener von Isanagi und Isanami geschaffenen Inseln, und ebenso entstanden die Inseln und Landschaften von China und alles Festland und alle Eilande der übrigen Welt. Dann aber wurde ihnen der Gott des Meeres geboren, der Beherrscher der Flüsse, der Gott der Berge, darauf der Gott der Bäume und eine Göttin, der sie die Obhut der zarteren Pflanzen anvertrauten.

Nun aber sprachen sie: »Wir haben das grosse Reich der acht Inseln geschaffen, Berge, Flüsse und Gewächse; jetzt müssen wir auch noch eine Gottheit haben, welche Gebieter darüber ist, und es versteht, dies alles zu lenken.«

Als sie nun ihr nächstes Kind bekamen, da war es eine Tochter, und diese war von so strahlender Schönheit, dass sie das Kind Amaterasu nannten, das heisst: Leuchte des Himmels. Und beide Eltern freuten sich so sehr über die schöne Amaterasu, dass Isanagi sagte: »Unsere Tochter soll droben in den Himmelsgefilden wohnen und von dort aus das Weltall lenken.« Isanami war es zufrieden, und so führten sie Amaterasu auf den hohen Bergpfeiler und über die schwebende Brücke in den Himmel, der damals[41] noch der Erde ganz nahe war. Der grosse Himmelsgeist aber machte sie dort zu der erhabenen Sonnengöttin, und deshalb sah auch das Götterpaar Isanagi und Isanami sie als ihre eigentliche Erstgeborene an, die sie vor allem hoch und wert hielten. Das folgende Kind, das sie bekamen, war ein Sohn, fast nicht minder schön als Amaterasu, aber von wilderer Gemütsart. Auch ihn versetzte Isanagi in den Himmel und liess ihn neben Amaterasu den Himmel beherrschen; er war der Mondgott Tsukuyomi. Auch noch ein dritter Sprössling wurde geboren: es war Sosanoo, der kräftige, tapfere Held mit langem, wallendem Barte; er war jedoch sehr unwirsch und hatte einen schwermütigen Sinn. Er weinte und wehklagte so sehr, dass das Gras auf den Bergen verdorrte und die Menschen dahinstarben. Isanagi machte ihn anfangs zum Beherrscher des Oceans, aber er hatte wenig Freude an dem Sohne, der ihn nur zu oft erzürnte.

Doch jetzt war es mit dem Glück und der Schaffensfreude des ruhmreichen Götterpaares zu Ende, denn der jüngste Sohn, der Gott des Feuers, ward geboren, und daran musste Isanami sterben; und obwohl mit ihm noch der Gott der Metalle, die Göttin des Ackerlandes und die Göttin des Sumpflandes während der Todesqualen seiner Mutter erschaffen wurden, so vermochte diese doch die Geburt des Feuergottes nicht zu überleben und ward durch ihn verbrannt. So verschied sie und verbarg sich in die tiefste Einsamkeit im Reiche der Bäume – in der Landschaft Kii – wo sie bis auf den heutigen Tag durch Feste, Prozessionen, Tanz, Gesang und Blumenspenden verehrt wird. Von hier entwich sie in die Unterwelt.

Isanagi aber war durch den Verlust seiner Gemahlin heftig erzürnt; er ergriff sein Schwert und zerhieb seinen jüngsten Sohn, den Feuergott, durch den er sie verloren, in drei Stücke. Aus diesen Teilen aber entstanden drei neue Götter, der Gott der Wetterwolke, der Gott des Donners und der Gott des Blitzes.[42]

Und nun stieg Isanagi aus Sehnsucht nach seiner vielgeliebten Isanami auch in das finstere Reich der Unterwelt hinab. Sie aber kam ihm als Geist entgegen, in derselben Gestalt, in der er sie zu sehen gewohnt war, und bat und flehete, er möge nicht versuchen, zu ihr zu kommen. Doch er liess sich nicht warnen, er drang in die finstere Tiefe und verschaffte sich Licht, indem er durch Reiben eines Kammes einen Spahn anzündete. Mit diesem suchte er seine Isanami und – fand nur ihren verwesten Leichnam. Isanami, die ihm zürnte, weil er ihre Bitte nicht erfüllt hatte, liess ihn nun durch acht gräuliche Weiber, denen die Wache der Unterwelt übertragen ist, fortjagen, und hart bedrängt musste er fliehen. Doch wehrte er sich tapfer und hieb mit dem Schwerte hinter sich; auch warf er seine Perrücke ab, die sich in Trauben verwandelte, und jenen Kamm, durch welchen er sich Licht verschafft, und dessen Zacken zu Bambussprossen wurden. Während nun die acht Weiber erst die Trauben und dann die Bambussprossen gierig verzehrten, entkam Isanagi glücklich aus der Unterwelt; auf der breiten Treppe aber, die von dort hinauf führt, stand er still und rief Isanami zu, dass sie nun ewig voneinander geschieden wären, und dies Gelöbnis beschwor er mit Eiden. Zugleich wälzte er einen ungeheuren Stein, den zu bewegen wohl tausend Menschenkräfte erforderlich wären, vor das Thor der Unterwelt und verwehrte so den Zugang derselben. Als Isanami dies gewahrte, drohte sie, dass nun täglich tausend Menschen durch sie sterben sollten, und darauf erwiderte Isanagi, dass dann eintausendfünfhundert Menschen geboren werden sollten.27 Mit diesem Ausspruch lief er fort, warf Stab und Kleider von sich und ging zu den Meerengen, welche das Binnenmeer Japans nach aussen abschliessen und seine Teile unter sich trennen. Hier suchte er die besten Stellen aus und badete, um die Verunreinigung zu tilgen, welche er aus der Unterwelt mitgebracht hatte, und infolge dieses Bades entstanden[43] verschiedene Götter, welche noch heute als Gottheiten des Meeres und Strandes in Japan hoch verehrt werden.

Nun aber fasste Isanagi den Entschluss, da seine göttlichen Werke vollbracht seien, sich zur Buhe zu begeben. Er übertrug seinen drei Kindern Amaterasu, Tsukuyomi und Sosanoo die Herrschaft der ihnen übertragenen Gebiete. Sosanoo aber, der gewaltige Gott mit dem wallenden Barte, klagte und grollte ärger denn je und bat seinen Vater, ihn doch in die Unterwelt zu seiner Mutter zu senden; nur dort könne er Ruhe finden. Obgleich nun Isanagi darüber zürnte, gewährte er doch zuletzt seine Bitte und übertrug dem Tsukuyomi die Obhut der Meeresfluten, die seitdem dem Monde gehorchen. Sosanoo aber, obwohl nun zufrieden gestellt, bat, noch eine kleine Weile bei seiner Schwester Amaterasu weilen zu dürfen. Auch diese Bitte ward ihm gewährt, und so stieg er vorerst in den Himmel hinauf.

Isanagi, der ruhmreiche Schöpfer und Gebieter der Erde, baute sich einen Tempel in Awaji, dann aber stieg auch er gen Himmel und wohnte von nun an in dem neuen, herrlichen Palaste der Sonnengöttin, seiner geliebten Tochter, der er durch weise Ratschläge nützte und helfend zur Seite stand.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 38-44.
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