Warum die Grille so traurig singt, wenn der Herbst kommt.

[250] Es lebte einmal in alten Zeiten eine Jungfrau mit Namen »Mondschein«. Die war reich, schön und tugendhaft und blieb stets daheim, um einen Gatten zu wählen. Drei Jahre lang sah sich jeder Freier zurückgewiesen. So[250] erreichte sie ihren sechsundzwanzigsten Frühling. Zu derselben Zeit lebte auch ein junger Gelehrter namens Chiêm khôi. Ganz dem Studium ergeben, dachte er nicht an die Ehe. Er wartete, bis er eine glänzende Stellung hätte, um sich dann eine Frau zu suchen, die seiner würdig wäre. Als auch er sein 26. Jahr erreicht hatte, hörte er die Schönheit und Tugend der jungen »Mondschein« preisen. Er bewarb sich um sie, und Mondschein gab dem Jüngling, der so edel aussah und sich so fein benahm, ihr Jawort. Mehr als zwei Jahre lebten die Neuvermählten zusammen; im achten Monat des dritten Jahres aber sterb Chiêm-khôi. Die arme »Mondschein« war so trostlos, dass man sie drei Jahre lang weder lachen noch mit einer Menschenseele sprechen sah. Sie war entschlossen ihrem Gatten treu zu bleiben. In ihrem Schmerze weinte sie Tag und Nacht. Als sie nun die drei Trauerjahre144 treulich eingehalten hatte, wurde sie in eine Grille verwandelt. In der tiefsten Nacht und im Schweigen des Tages fuhr sie fort ihre Klagen erschallen zu lassen, als ob sie immerfort den Tod ihres Gatten beweinte. Aber wenn der Herbst naht, die Zeit, wo Chiêm-khôi ihr entrissen wurde, da verdoppelt sie ihre traurigen Klagen und ihr Gesang erweckt trübe Gedanken. Das ist die Sage von der Grille.145

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 250-251.
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