XV. Erzählung.
Abaraschika, das vielbedeutende Wort.

[11] Indem er abermals in der früheren Weise mit seiner Last auf dem Rücken dahin wanderte, erzählte Siddhi-K ýr folgende Geschichte:

Früh vor Zeiten lebte im Westen Indiens ein König, der einen gar klugen Sohn hatte. Diesen Prinzen sandte er mit dem Sohne eines Ministers, mit der Bestimmung jegliches Wissen von Grund aus zu lernen und recht weise zu werden, in das Diamantenreich Mittelindiens, wobei er jedem von beiden ein halb Mass Gold mit auf den Weg gab. Nach ihrer Ankunft im Diamantenreich überreichten sie zweien Lamas jeder sein besonderes Geschenk und blieben zwölf Jahre lang bei ihnen in der Lehre. Da machte der Sohn des Ministers dem Königssohn den Vorschlag, jetzt in die Heimat zurückzukehren. Und nachdem jeder von ihnen es seinem Lehrer gemeldet, gaben die Lamas ihre Zustimmung[11] dazu. Auf dem Heimwege, der eine weite Strecke betrug, konnten sie kein Wasser finden. Während sie dem Tode nahe so dalagen, liess eine Krähe den Ruf »ikerek« ertönen. Kaum hatten sie das vernommen, als der Königssohn sagte: »Jetzt wollen wir weiter gehen, es wird sich Wasser finden«. Doch der Ministersohn sagte: »Wie sollte sich Wasser für uns finden?« »Jetzt, da ich den Ruf einer Krähe gehört«, sprach der Königssohn, »verspreche ich Rettung; wenn wir uns von hier in südlicher Richtung wenden, so wird sicherlich dort in der Entfernung von 500 Schritten ein gutes, frisches, wohlschmeckendes, reines, vortreffliches Wasser sich finden. Kaum dass wir es gesehen, werden wir uns wieder erholen«. Darauf giengen die beiden eine Strecke von 500 Schritten weiter, wo sie in der That Quellwasser fanden. Beide tranken von diesem Wasser, löschten ihren Durst und nahmen davon auch noch auf den Weg mit. Unterwegs dachte der Sohn des Ministers bei sich: »Der König hat uns beiden den Unterhalt gleichmässig gewährt; dieser ist nun so klug und weise geworden, ich aber habe nicht den Umfang seines Wissens erreicht«. Auf diese Weise fasste er böse Absichten gegen den Königssohn. Desshalb sprach er zu ihm: »Des Nachts wollen wir beide auf einen Berg steigen und dort übernachten; wenn wir die Nacht auf der Ebene zubrächten, könnten wir leicht von Dieben geplündert werden«. Damit entführte er ihn in den Wald auf einen Berg und tödtete ihn dort; der Königssohn rief nur noch das eine[12] Wort aus: »abaraschika«. Darauf kehrte der Sohn des Ministers in seine Heimat zurück, und als er bereits nahe war, kam ihm der König sammt den Ministern zur Begrüssung entgegen. Da der Königssohn nicht mit erschien, so war die erste Frage: »Wo ist der Königssohn hin?« »Der Königssohn«, erwiederte er, »ist gestorben«. Der König rief in heftigem herbem Schmerze: »Ach ihr, viele Hunderte zählenden, Städte! ach du meine Herrschermacht! wie seid ihr nun verwaist!« Unter diesen beständigen Klagen und in bitterer Wehmuth kehrte er in seine Residenz zurück. Er dachte bei sich: »Mein Sohn ist gestorben; sollte er nicht vielleicht irgendwie seinen letzten Willen kundgegeben haben?« Er befragte darüber den Sohn des Ministers. Dieser sprach: »Da ihn eine heftige rasche Krankheit befallen, so hat er nicht eben viel gesprochen; als er sein Leben aushauchte«, rief er bloss: »abaraschika«. Der König meinte, diesem Worte müsse doch wohl irgend ein Sinn zu Grunde liegen. Desshalb berief er aus dem ganzen grossen Reiche alle auf Berechnungen sich verstehenden Gelehrten, die Zauberer, Wahrsager, Ärzte insgesammt und legte ihnen die Frage vor, was es für einen Sinn habe, wenn man »abaraschika« sage? Doch insgesammt wussten sie es nicht. Da sprach der König: »Das Wort des meinem Herzen theuern Sohnes habt ihr nicht zu deuten vermocht; nun, innerhalb sieben Tagen sehet alle eure Schriften durch, suchet die Deutung und saget sie mir alsdann; wenn ihr euch irret und sie[13] mir nicht richtig angebt, so lasse ich euch sämmtlich in ein Burgverliess einsperren und hinrichten«. Man schloss tausend Gelehrte in ein Gebäude zusammen; doch hatten sie während sechs Tagen nichts herausgebracht. »Morgen müssen wir sicherlich sterben« hiess es allgemein. Die einen flehten zu den Himmelsgöttern, die andern weinten, indem sie ihrer Eltern und Verwandten gedachten.

Inzwischen hatte sich aus ihrer Mitte einer davongeschlichen, ein niederer Geistlicher, und die Flucht ergriffen. Er verbarg sich am Fuss eines im Walde stehenden Baumes. Während er so dasass, fieng auf einmal vom Gipfel des Baumes ein kleiner Junge zu weinen an. Der Vater desselben rief: »Weine nicht, mein Sohn! morgen wird der König dieses Landes tausend Menschen hinrichten lassen; wenn wir das Fleisch derselben nicht verzehren, wer wird es verzehren?« Abermals nach einer Weile rief der Junge weinend: »Ich habe Hunger!« Da tröstete ihn die Mutter mit den Worten: »Weine nicht, mein Sohn! morgen wird der König dieses Landes tausend Menschen hinrichten lassen; wer anders als wir wird ihr Fleisch und Blut verzehren?« Auf die Frage des Jungen: »Warum lässt er denn die tausend Menschen hinrichten?« antwortete der Vater: »Weil sie die Bedeutung des Wortes ›abaraschika‹ nicht wissen, desshalb lässt er sie hinrichten«. »Welches ist denn seine Bedeutung?« fragte der Junge. »Die Bedeutung desselben«, versetzte der Vater, »ist leicht. Es heisst:[14] ›Dieser mein Busenfreund hat mich in einen dichten Wald geführt; während er mir dort Verwundungen beibrachte, trat er mir zugleich mit den Füssen auf den Hals, und mich hauend hat er mir mit einem scharfen Schwerte den Hals abgeschnitten‹«.

Kaum hatte der niedere Geistliche diese Worte vernommen, so eilte er über Hals und Kopf nach dem Gebäude zurück und als er bei Tagesanbruch das Thor erreichte, gab er sofort das Zeichen mit der Trommel. Die Pförtner fragten: »Wer bist du?« »Ich bin«, sprach er, »ein College der Gelehrten, lasst mich nur ein zu ihnen«. Sie führten ihn zu seinen innen befindlichen Gefährten. »Ängstigt euch nicht«, sprach er zu seinen Gefährten, »ich werde die Bedeutung des Wortes erklären«. Als sie darauf der König alle um sich versammelte und die Frage nach der Bedeutung des Wortes an sie richtete, erzählten sie den bisherigen Verlauf der Sache. Ohne dem Sohn des Ministers hievon auch nur das geringste zuvor zu erwähnen, sprach der König plötzlich zu ihm: »Zeige mir die Gebeine meines Sohnes«. Da nahm der König des Sohnes Gebeine und errichtete ihm einen Grabhügel; den Sohn des Ministers liess er hinrichten, den Vater desselben aber, den Minister, entsetzte er seines Amtes, und hundert gelehrte Geistliche zeichnete er mit hohen Ehren aus.

Bei diesen Worten der Erzählung sprach der in Wohlstand und Glück wandelnde Chân: »Schade, dass dieser in den fünf Zweigen des Wissens gebildete Königssohn[15] getödtet ward!« Und Siddhi-K ýr versetzte: »Sein Glück verscherzend hat der Chân seinem Munde Worte entschlüpfen lassen!« und mit dem Ausruf: »In der Welt bleibe ich nicht!« flog er durch die Lüfte davon.

Quelle:
Jülg, Bernhard: Mongolische Märchen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, 1868, S. 11-16.
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