Die Aufzeichnung der alten Geschichte Japans.

[251] Im Jahre 672 unserer christlichen Zeitrechnung bestieg ein Kaiser, Namens Temmu, den Thron Japans. Dieser Herrscher war nicht nur muthigen Sinnes, so daß er alle Unruhen siegreich unterdrückte, welche mißvergnügte Verwandte anzettelten, als er nach dem Tode seines älteren Bruders den Thron erbte, sondern er war auch weise und gerecht und vor allen Dingen ein eifriger Förderer der Künste und Wissenschaften. Namentlich waren es die alten Geschichtsbücher und Familienchroniken, denen er seine Aufmerksamkeit schenkte, und da fand er denn, daß die Ueberlieferungen der verschiedenen vornehmen Familien überaus unzuverlässig waren und sich sehr oft einander widersprachen. Er sagte daher zu seinen Rathgebern: »Wenn diesem Uebelstande nicht abgeholfen wird, so wird unseres Reiches Gewebe bald zerrissen, Einzug und Aufschlag verloren sein. Ich befehle daher, daß alle vorhandenen Chroniken geprüft und zusammengestellt werden, daß aus ihnen das Wahre auserlesen, jeder Irrthum aber ausgemerzt wird; denn es ist mein Wille, daß von nun an nichts als die Wahrheit der Nachwelt überliefert wird.«[251] Die Gelehrten des Hofes machten sich auch sofort ans Werk; damit aber ja von dieser schweren Arbeit nichts verloren ginge, traf der Kaiser noch eine besondere Vorsichtsmaßregel. Es befand sich unter seinen Vasallen ein Mann von 28 Jahren, aus dem Geschlechte Hiyeda, mit eigenem Namen Are geheißen. Dieser war so gescheit und hatte ein so außerordentliches Gedächtniß, daß er alles, was er sah und hörte, nach noch so langer Zeit wieder erzählen konnte. Diesem befahl der Kaiser, die Stammbäume der Kaiser und des ihnen vorangegangenen Göttergeschlechtes nebst allen bemerkenswerthen Vorfällen auswendig zu lernen.

Dies erwies sich in der Folge als ein großes Glück; denn das Werk, das nur langsam fortschreiten konnte, war noch nicht vollendet, als Kaiser Temmu starb, und nun kam nicht nur das ganze Unternehmen ins Stocken, sondern es gingen auch die bereits angefertigten Schriften verloren. Erst vierundzwanzig Jahr nach dem Ableben Temmu's, im Jahre 711 unserer Aera, ward sein Plan durch die gelehrte und fromme Kaiserin Gemmio wieder aufgenommen, und jetzt wäre es geradezu unmöglich gewesen, denselben auszuführen, wenn nicht jener Hiyeda Are noch gelebt hätte, und wenn er nicht dem Minister und Günstling der Kaiserin, dem Schriftgelehrten Yasumaro alles, was er ehemals auswendig gelernt, nun wörtlich hätte wiederholen können. Mit seiner Hülfe aber verfaßte Yasumaro in wenig mehr als vier Monaten das große Werk, das unter dem Namen Kojiki auf die Nachwelt gekommen ist und in drei Bänden die ganze Geschichte der Götter und der ältesten Herrscher Japans bis etwa zum 50. Jahre vor Kaiser Temmu's Thronbesteigung enthält; bis so weit war nämlich das von Are auswendig gelernte Geschichtswerk gediehen, als es in Folge der Ungunst der Zeiten unterbrochen ward. Für jene Periode aber ist es die eigentliche erste und ursprüngliche Quelle der Geschichtsschreibung Japans.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 251-252.
Lizenz:
Kategorien: