Die Rache eines verlassenen Mädchens an dem Treulosen.

[432] Es ist in Japan ein allgemein verbreiteter Glaube, daß man Personen, welchen man Schaden an Leib und Leben zufügen will, damit quälen und zu Grunde richten kann, daß man eine Puppe aus Stroh anfertigt und diese durch Anlegen von Kleidern des Feindes und durch gewisse magische Prozeduren so hergerichtet, daß alles, was ihr geschieht, auch von demjenigen empfunden wird, den sie darstellen soll. Daher nehmen denn auch Mädchen, welche in besonders schändlicher Weise von ihrem Liebhaber verlassen sind, zu solchem bösen Zauber ihre Zuflucht, um sich an dem Treulosen zu rächen. Plan erzählt, daß vor grauen Jahren eine zauberkundige Frau einem jungen Mädchen, das sich bei ihr über den Treubruch ihres Geliebten bitterlich beklagte, den Rath gegeben habe, eine solche Strohpuppe um die Stunde des Stieres, also zwischen ein und drei Uhr Nachts, in den Wald mitzunehmen und an einen Baum nageln, den sie dann zu mehrerer Sicherheit mittels eines Strohseiles bannen sollte, um jede übernatürliche Dazwischenkunst zu Gunsten des Verfolgten auszuschließen. Als nun die Strohpuppe angefangen habe, zu verwesen, sei der ungetreue Liebhaber erkrankt und unrettbar dem Tode verfallen. Seitdem gehen Frauen und Mädchen, welche durch die Treulosigkeit eines Mannes tief gekränkt und von Rache gegen denselben beseelt sind, meist um dieselbe Stunde einsam in den Wald, nageln ein aus Stroh gefertigtes Abbild des Gegenstandes ihres Hasses an einen geweihten Baum und beten dann oft viele Nächte hinter einander zu den Göttern um Bestrafung des Verräthers. Gern wählen die rachsüchtigen Frauen solche Bäume, welche schon einmal zu dem nämlichen Zwecke geweiht waren, und so sieht man oft solche Bäume mit einer ganzen Anzahl von Nägeln bedeckt, an welchen einstmals derartige – nun längst abgefaulte – Strohpuppen befestigt waren.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 432-433.
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