Der Fuji-Yama und der Biwa-See.

[329] Der höchste Berg in ganz Japan ist der Fuji-Yama. Er ist ein himmelhoher Bergkegel, der bis in die Wolken reicht; er ist der Berg, dessen begeistertes Lob alle Reisenden verkünden, denn er heißt sie schon aus weiter, weiter Ferne willkommen, ehe sie noch den Strand des lieblichen Inselreiches betreten haben.

Mit recht sind die Japaner stolz auf den wunderbaren Berg, den die goldene Abendsonne so herrlich bestrahlt, den sie im Scheiden mit zauberhaftem Purpur übergießt. Rings um ihn strahlt die Luft in goldigem Nebel, der Berg scheint, wie von liebenden Händen getragen, in magischem Glanze höher und höher zu steigen, bis er sich im dunklen Nachthimmel verliert.

Das ist der Berg, zu dem alljährlich tausende von frommen Pilgern wallfahrten, um Segen und Heil für sich und ihre Lieben vom heiligen Gipfel zu holen. Das ist auch derselbe Berg, den man allüberall auf den Bildwerken der Japaner dargestellt sieht.

Doch wie der Riesenberg entstanden, darüber berichtet die Sage gar wundersames.[329]

Bis zum Jahre 376 nach der Gründung des japanischen Reiches, so erzählt man, gab es keinen Fuji-Yama; die Stelle, an der er sich jetzt weit, weit über die niederen Berge der Umgegend erhebt, war flach und hatte nicht den kleinsten Hügel. Aber in einer einzigen Nacht ist er entstanden. Urplötzlich erhob er sich in seiner ganzen Größe, und die Menschen staunten gewaltig über das Wunder und sahen mit Schrecken, wie er aus seinem Gipfel Feuer und lose Steine ausspie, die sich rings um den offenen Schlund auf seinen Gipfel lagerten. Wie lange dies Feuerspeien dauerte, weiß man nicht mehr; nur berichten die alten Geschichten, daß es sich noch mehrmals in späteren Tagen wiederholte. Jetzt aber ist dort oben seit vielen Menschenaltern alles erkaltet.

Das urplötzliche Erscheinen des Riesenberges war indessen durch ein Ereigniß hervorgerufen, daß sich in derselben Nacht weit ab im Westen, nicht weit von der Hauptstadt Kioto, vollzog. In selbiger Nacht wurden die Menschen auf eine weite, weite Strecke, im Nordosten jener Stadt, durch ein entsetzliches Getöse geweckt, das die ganze Nacht hindurch anhielt und alle Welt über die Maßen ängstigte. Neugierig traten die Leute anderen Morgens aus ihren Häusern, um zu erspähen, was sich zugetragen haben könnte, und, Wunder über Wunder, alle Berge, welche sich in jener Gegend befunden, und welche die Bewohner der Hauptstadt dort von jeher hatten emporragen sehen, waren auf unerklärliche Weise verschwunden. An ihrer Statt war ein prachtvoller, großer See entstanden, dessen Wassermassen sich einen Weg nach Südwesten bis zum Meere hin bahnten und noch heutigen Tages an der Hauptstadt Kioto vorbeiströmen. Die Bergmassen aber, welche an der Stelle jenes Sees, den man den Biwa-See nennt, gestanden hatten und in jener Schreckensnacht einstürzten, die eben waren es, welche in weiter Ferne wieder emporstiegen und den Fuji-Yama aus dem Erdboden erhoben.

Auf diese Weise ist der herrliche, blaue Biwa-See und der[330] riesige Fuji-Yama entstanden; noch heute erzählt Jung und Alt in Japan diese merkwürdige Geschichte, und Niemand bezweifelt, daß sie sich so und nicht anders zugetragen hat.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 329-331.
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