Mosoo.

[68] Vor grauen Jahren lebte in China ein sehr frommer und braver Mann mit Namen Mosoo. Er besaß eine Hütte und ein Gärtchen nebst ein paar Feldstücken und arbeitete unverdrossen, um seine bejahrte Mutter so gut als irgend möglich zu verpflegen. Gewillt, sich ganz der Erfüllung seiner Pflichten gegen die Mutter zu widmen, war er ledig geblieben, obwohl seine Mutter selber ihn oft angetrieben hatte, einen Hausstand zu gründen; er kannte kein größeres Glück, als ganz allein dem heiligen Gebote der Kindesliebe zu folgen, und wollte von nichts anderem wissen, so lange seine Mutter lebte. Die leisesten Wünsche, welche dieselbe äußerte, wurden stets aufs schleunigste von ihm erfüllt, und ängstlich wachte er über ihr Wohlergehen.

Mosoos Bekümmerniß war daher sehr groß, als seine Mutter bedenklich erkrankte. Alle Gebete und Amulete, alle Mittel, welche man ihr anrieth, waren erfolgslos; die alte Frau siechte dahin, und Mosoo konnte sich nicht verhehlen, daß sie kaum noch hoffen dürfe, jemals ihr Krankenlager zu verlassen. Einstmals – es war tief im Winter, und Schnee bedeckte alles weit umher – sagte sie zu ihrem Sohne: »O könnte ich nur einige junge Bambussprossen zu essen bekommen! Ich glaube, die würden meine Kräfte wieder herstellen, so daß ich noch einmal das Bett[68] verlassen und froh an deiner Seite, mein lieber Sohn, sitzen könnte!« Mosoo war darüber in hohem Grade bestürzt. »Wenn wirklich nur Bambussprossen meine arme Mutter wieder herstellen können, so ist das sehr schlimm,« dachte er, »denn um die jetzige Jahreszeit ist nirgends etwas der Art zu finden!« Um jedoch seiner Mutter keinen Kummer zu machen, ergriff er seine Hacke und verabschiedete sich von ihr, um so schnell als möglich, wie er sagte, ihrem Wunsche nachzukommen.

Mit schwerem Herzen trat er vor das Haus und durchschritt sein Gärtchen, an dessen anderer Seite ein kleines Bambusdickicht lag. Hier machte er Halt und räumte emsig mit der Hacke den Schnee fort, obwohl er überzeugt war, daß alle seine Mühe umsonst sein würde. Aber – o Wunder – kaum hatte er die Schneedecke entfernt, so sah er eine Menge der zartesten, frischesten Bambussprossen, die schönsten, die ihm jemals vorgekommen. Er las sie sorgfältig zusammen und hatte in kurzer Zeit mehr, als zu einer Mahlzeit vonnöthen war, und als er sie heimgebracht und seine Mutter durch ihren Anblick erfreut hatte, bereitete er aus ihnen ein Gericht, wie es die Kranke wünschte.

Als dieselbe die Wunderspeise gegessen, fand sie sich außerordentlich erquickt und erfrischt; von Stund an genaß sie, stand bald von ihrem Lager auf und lebte noch viele, viele Jahre mit ihrem Sohne zusammen. Diesen aber belohnten die Götter für die fromme Erfüllung der Sohnespflichten mit ungetrübtem Wohlsein bis in sein hohes Alter.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 68-69.
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