XVI.

[51] Rustem war König in Dâra. Er berief alle Einwohner der Stadt zu sich. Sie traten in seinen Empfangssal und fragten: »Was wünschest du?« Er sagte: »Wir wollen eine Mauer um die Stadt bauen«. »Auf, das wollen wir tun«, riefen sie und bauten eine Mauer um die Stadt.

Einst hatte Rustem einen Traum; auf Veranlassung desselben kaufte er Korn auf und tat es in die Scheunen; bis in die Ebene von Môçul mussten seine Diener sich verteilen und Korn aufbringen. Als ein teures Jahr gekommen war und man in der Stadt Hunger litt, Öffnete er die Scheunen und gab den Armen Korn, bis die Teurung zu Ende war.

Einst pflog Rustem mit seinem Diener Rat und sagte ihm: »Mir fehlt eine schöne Frau«. Da antwortete der Diener; »Rustem,[51] ich will dir mal etwas sagen, in Môçul ist eine Namens Särîfe, die Frau des Consuls, schöner als die gibt's keine«. »Auf! die wollen wir holen«, sagte Rustem, sass auf und ritt mit dem Diener nach Môçul. Als sie in die Stadt gekommen waren und in den Strassen umhergingen, staunten die Leute ihn an und fragten unter einander: »Wer ist dieser?«, denn sie kannten ihn nicht. Einer trat zu Rustem heran und fragte ihn: »Woher bist du?« »Ich bin aus Dâra«. Andere fragten: »Wie heissest du?« »Ich bin Rustem«, war die Antwort. Da befiel die Leute Zittern. Rustem ging nun zum Consul, liess sich dort nieder, man machte ihm Kaffe und bewirtete ihn freigebig. Darauf sprach die Frau des Consuls, Särîfe, zu ihrem Manne: »Du hast Rustem bewirtet, jetzt will ich ihn auch zu mir in mein Zimmer einladen«. Der Consul war damit einverstanden, und Särîfe lud Rustem zu sich in ihr Zimmer. Der Consul schickte jedoch noch einmal zu ihr und liess sagen, er wolle auch kommen, aber sie liess ihm vermelden, er möge ihr Zimmer nicht betreten. Als sie nun den Rustem bewirtete und ihm Essen vorgesetzt hatte, hob sie an: »Rustem, das Essen bekommt dir nicht ohne Wein und Brantwein«. »Wie du willst« sagte Rustem, und sie tranken Brantwein. Davon wurde Rustem betrunken und sank aufs Kissen des Sofas hin. Da befal Särîfe den Dienern: »Schliesst die Thüren ab, Rustem ist betrunken geworden und eingeschlafen«. Die Diener taten das und gingen sich schlafen legen. Als nun Särîfe mit Rustem allein auf dem Sofa war, zog sie ihm die Hose hinunter und spielte mit seinem Gliede. Davon wurde Rustem wieder munter und fragte sie: »Was fängst du an?« Sie antwortete: »Du bist diese Nacht mein Gast und seit dem Abend schläfst du!« »Was wünschest du denn?« »Komm, umarme mich«. »Nein, ich will dich entführen«. »Erst umarme mich, und dann wollen wir fliehen«. Er aber wollte ihre Bitte nicht erfüllen, und sie setzten die Flucht in's Werk. Sie benachrichtigten den Diener Rustem's, setzten sich zu Pferde (und zwar bestieg Särîfe das Pferd des Consuls), verliessen die Stadt und eilten in der Nacht auf dem Wege dahin wie die Post. Noch in der Nacht kamen sie nach Dâra; als der Tag anbrach, waren sie dort. – Es war so um diese Zeit, da erhob sich der Consul vom Schlafe und begab sich in das Zimmer der Särîfe. Dort fand er Niemanden. Er fragte in der Stadt herum, sie hatten Niemanden gesehen. Endlich fragte er einen Molla; der erwiderte ihm: »Ich stieg in der Nacht auf's Minaret, um zum Gebete zu rufen, da sah ich drei reiten, eine Frau und zwei Männer, sie eilten dahin[52] wie die Post«. Da war dem Consul klar, dass Rustem ihm seine Frau entführt hatte. Er setzte sich hin, schrieb einen Brief und schickte ihn an Rustem. Als aber Särîfe den Brief erblickte, zerriss sie ihn und sprach zum Diener: »Sage ihm, was immer Ton ihm kommt, damit wird so verfahren; er kann tun was er will«.

Qaratâschdîn hatte einen grossen Namen in der Welt; er hatte die Tochter Chalef-Agha's, des Herrn von Snâwer entführt. Sie hiess Mändsche und hatte an Schönheit nicht ihres gleichen: wenn sie trank, so konnte man das Wasser deutlich in ihrer Kehle sehen [so fein war ihre Haut], ihre Taille war so dünn wie eine Nadel. Sie war bei Qaratâschdîn auf der Burg von Schä'bâne. Zu diesem Qaratâschdîn begab sich der Consul und sagte ihm: »Rustem hat meine Frau entführt, geh hin, hole sie, und sie soll dir gehören, aber er soll sie nicht haben«. »Wo ist denn Rustem?« fragte jener. »In Dâra«.

Chalef-Agha kam mit Weibern und Kindern und begab sich unter den Schutz Rustem's. »Was wünschest du? Chalef-Agha!« fragte ihn Rustem. »Sieh, Rustem, meine ganze Familie steht hier vor dir, ich wünsche, dass du meine Tochter dem Qaratâschdîn abnimmst. Er hat sie entführt, aber sie ist eines besseren wert; hole sie, und sie soll dir gehören«. »Wo ist denn Qaratâschdîn?« »In der Burg von Schä'bâne; wir vermögen nichts gegen ihn, du musst das Mädchen holen«. »Voran denn!« sagte Rustem, bestieg das Luftpferd, nahm sein Schwert von neun Pfund und hing es um seine Schulter. Dann sprach er zu Chalef-Agha: »Lass einen von deinen Dienern mit mir gehen, dass er mir die Burg zeige und dann zurückkehre«. Der Diener zog mit Rustem, bis sie vor die Burg kamen, und als er sie ihm gezeigt hatte, kehrte er zurück. Rustem stieg ab, ass Brot, stopfte sich eine Pfeife und betrachtete die Burg. Da erblickte er zwei Riesen, die kamen, um die Mändsche zu stehlen und mit Qaratâschdîn zu kämpfen. Obgleich Rustem sie sah, so sahen sie ihn doch nicht. Sie sprachen zu einander: »Wir wollen an das Tor klopfen, dann kommt Qaratâschdîn heraus, und wir erschlagen ihn; ist er aber nicht im Hause, so kommt Mändsche heraus, und wir rauben sie«. Als Rustem dieses hörte, dachte er: »Ich will mich ruhig verhalten, damit ich sehe, was Qaratâschdîn und die Riesen anfangen«. Die Riesen klopften nun an's Tor; Qaratâschdîn war aber nicht zu Hause, er war ja unterwegs nach Dâra. Aber der Consul war dort auf der Burg, und der kam herab, um das Burgtor zu Öffnen. Sobald dasselbe offen war, drangen die Riesen ein und säbelten[53] den Consul nieder. Mändsche stieg oben auf die Burg hinauf und schrie, um Hilfe. Da bestieg Küstern sein Pferd und ritt dicht vor das Burgtor. Die Riesen waren hinaufgestiegen und holten Mändsche, um sie zu entführen. Als sie nun mit ihr hinauskamen, ging Rustem auf sie los, und sie mussten mit ihm kämpfen. Wie gesagt, war das Pferd Rustem's von Luft und daher nicht sichtbar. So tödtete er die beiden Riesen, nahm Mändsche und machte sich mit ihr auf den Heimweg.

Qaratâschdîn war unterdessen nach Dâra zur Burg Rustem's gekommen. Särîfe war hinausgegangen, um am Wasser zu sitzen und sich zu vergnügen. Dort erblickte sie Qaratâschdîn, raubte sie und setzte sie hinter sich aufs Pferd. Unterwegs stiess er auf Rustem: sie schrien sich einander an; jener rief: »ich bin Qaratâschdîn« und dieser erwiderte: »Ich bin Rustem«. Rustem setzte Mändsche ab und Qaratâschdîn setzte Särîfe ab. Die beiden Frauenzimmer gingen zu einander und standen beisammen und sagten zu Qaratâschdîn und Rustem: »Wer den andern tödtet, dem gehören wir«. Nun begannen die beiden zu kämpfen, bis zum Abend konnten sie einer dem andern nichts anhaben; am Abend schlössen sie Waffenstillstand und Rustem schlief bei der Särîfe und Qaratâschdîn bei der Mändsche. Am Morgen stand Särîfe auf, machte Rustem's Pferd zurecht, zog die Gurte fest an und kochte Kaffe. Auch Mändsche stand auf, machte Qaratâschdîn's Pferd zurecht, zog die Gurte fest an und kochte ihm Kaffe, und er trank. Dann bestiegen die Beiden ihre Pferde, griffen wieder zu den Schwertern und kämpften bis zum Abend, aber wieder konnten sie einander nichts anhaben. Noch einmal ging Rustem gegen Qaratâschdîn los; dessen Pferd wurde müde, und es gelang Rustem, ihm in den Rücken zu kommen. Nun versetzte er ihm einen Hieb, der ihn in zwei Hälften teilte. Qaratâschdîn fiel vom Pferde, nur seine untere Hälfte blieb im Sattel; mit einem zweiten Sehlage warf Rustem auch diese vom Pferde. Dann setzte er Mändsche und Särîfe auf Qaratâschdîn's Pferd, ritt nach Hause und heiratete auch die Mändsche. Chalef-Agha zog darauf wieder von Rustem weg, um nach Hause zu gehen. »Rustem«, sagte er, »möge Mändsche dir zum Segen sein.« – Rustem's Name verbreitete sich darauf in der ganzen Welt.

Eines Tages sagte eine alte Frau zu Rustem: »Höre, Rustem«. »Ja!« »Unter den Beduinen am Ssindschârgebirge ist einer Namens Bilâl, bei dem ist die Tochter Ḥadschi-Bek's, er hat sie geraubt, sie ist einzig schön, und er ist ein Held wie du; wenn[54] du diesen tödtetest, so würde kein Held mehr in der Welt übrig sein ausser dir«. Da bestieg Rustem sein Pferd und suchte den Bilâl-Tschäläbi auf. Als er zum Ssindschârgebirge kam, erblickte er ein grosses Zelt am Berge. »Dem sei wie ihm wolle«, sagte er, »dieses ist das Zelt Bilâl-Tschäläbi's«. Darauf näherte er sich dem Zelte, vor dem Eingange desselben war ein Pferd, und eine Lanze stak in der Erde. Nun schrie er gegen das Zelt, da kam Bilâl heraus und fragte: »Was wünschest du? Verwegener«. »Ich bin Rustem«, war die Antwort, »ich bin zu dir gekommen, mache dich kampfbereit«. Da bestieg Bilâl sein Pferd, dasselbe war ein Luftpferd wie dasjenige Rustem's. Der Kampf begann. Bilâl kam Rustem in den Rücken und versetzte ihm einen Lanzenstich in denselben, so dass die Lanze bis in's Herz drang, und er Rustem vom Pferde warf. Nun pflegen die Beduinen nie mehr als einen Streich zu tun: (so liess auch Bilâl den Rustem ruhig liegen), führte (nur) dessen Pferd weg und band es vor dem Zelte an, dann nahm er ihm das Schwert ab und brachte es in's Zelt. Rustem grub sich in der Nacht eine Grube und legte sich in dieselbe schlafen: er bedeckte sich ganz mit Erde, nur den Kopf liess er draussen, und so schlief er bis zum Tagesanbruch; da war er wieder gesund. Er ging zum Zelte: da hing sein Schwert, und Bilâl lag da und schlief, er und die Tochter Ḥadschi-Bek's. Rustem erhob das Schwert, hieb nach Bilâl's Kopf und spaltete ihn ihm entzwei. Dann weckte er die Tochter Ḥadschi-Bek's, liess sie Bilâl's Pferd besteigen und bestieg selber sein eigenes, die Tochter Ḥadschi-Bek's nahm die Lanze auf die Schulter, und so kamen sie nach Hause. Als Rustem auf seiner Burg abgestiegen war, erzälte er den Leuten: »Bilâl hatte mich getödtet, aber ich wurde wieder gesund, da tödtete ich ihn und nahm das Mädchen mit«. Die Leute sagten: »Gott sei Dank, dass du glücklich zurückgekehrt bist«.

So bekam Rustem drei Frauen und er blieb (als alleiniger Held) in der Welt.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 51-55.
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