II.

[8] Es war einmal ein Häuptling der Kôtschär Namens Mirſ-Agha, dessen Wohnplatz war auf den Weiden. Ein Bruder, den er gehabt hatte, war gestorben und hatte einen Sohn und eine Tochter hinterlassen; der Name des ersteren war Ose, der Name des Mädchens 'Amsche. Da sandte Ibrahîm-Agha, der Herr von Bitlis, einen Diener zu Mirſ-Agha mit dem Auftrage: »Geh, sage ihm, er möge mir 'Amsche zur Frau geben«. Der Diener kam zu Mirſ-Agha und sagte: »Mirſ-Agha!« »Ja!« Ibrahîm-Agha hat mich geschickt mit dem Auftrag: »Geh, sage dem Mirſ-Agha, er möge mir das Mädchen zur Frau geben«. »Das werden wir nicht tun«, antwortete dieser. Da kehrte der Diener zurück und berichtete dem Ibrahîm-Agha, dass jene sie nicht geben wollten. Darauf beklagte sich Ibrahîm-Agha über sie bei der Regierung, und man vertrieb die Kurden aus dem Lande. Sie zogen in's Hochland, bis eines Tages Ose, der Neffe des Mirſ-Agha, zu diesem sagte: »Wir sind nun ein Jahr im Hochland geblieben, lass uns an unsern früheren Wohnplatz zurückziehen«. Da schlugen die Kurden ihre Zelte wieder ab und kamen an ihren früheren Wohnplatz zurück. Als Ibrahîm-Agha davon hörte, schickte er einen Diener an sie mit dem Befehl: »Geh, vertreibe sie von dort«. Der Diener kam dorthin, zog das Schreiben aus seiner Brusttasche und übergab es dem Mirſ-Agha. Dieser sah in das Schreiben und Ose fragte ihn: »Oheim, was steht in dem Brief?« »Mein Sohn«, antwortete er, »die Leute des Ibrahîm-Agha wollen uns von hier wieder vertreiben«. »Warum das?« fragte Ose. »Wegen 'Amsche, weil wir sie ihm nicht zur Frau gegeben haben«. Da erhob sich Ose und gab dem Diener eine Ohrfeige, dass er zu Boden fiel[8] und ihm drei Zähne zerbrachen. Dann sagte er: »Packe dich, wir wollen sehen, was ihr nun tun werdet«. Der Diener stand auf, stieg zu Pferde und machte sich aus dem Staube. Als er in die Stadt kam, traf er das Empfangszimmer angefüllt; da trat er vor Ibrahîm-Agha hin, und dieser fragte ihn: »Nun, wie ist es gegangen?« »Du siehst es, Herr!« antwortete jener, »einer Namens Ose, Bruder der 'Amsche, ist auf mich losgekommen und hat mir einen Schlag versetzt, so dass meine Zähne zerbrachen«. Hierauf befal Ibrahîm-Agha: »Werft den Diener in's Gefängniss, du hast von ihnen Bestechung angenommen«. »Nein, mein Herr«, entgegnete jener. Dann schickte er einen andern Diener mit dem Auftrag: »Geh, sage dem Mirſ-Agha: komm, wir wollen Freundschaft schliessen, Ibrahîm-Agha hat für seinen Sohn ein Hochzeitsgelage veranstaltet und wünscht, du mögest kommen«. Da ging der Diener zu Mirſ-Agha und sprach zu ihm: »Komm, wir wollen zu meinem Herrn gehen, er lässt dir sagen, er wolle Freundschaft mit dir schliessen«. »Schön«, antwortete jener. »Er hat seinem Sohne ein Hochzeitsgelage veranstaltet und wünscht, du mögest auch daran teilnehmen«. Ose aber sagte: »Mein Oheim kommt nicht«. Mirſ-Agha hingegen sprach: »Ja, ich will kommen, höre nicht auf jenen«. Hierauf reiste Mirſ-Agha mit dem Diener nach Bitlis in die Stadt zu dessen Herrn. Er ging in das Ratszimmer welches voll Vornehmer war, da hiess es: »Mirſ-Agha ist gekommen, bereitet ihm einen Sitz, seit langer Zeit sind sie Feinde gewesen«. Mirſ-Agha setzte sich in die Ecke, dem Fürsten gegenüber. – Unterdessen aber stieg auch Ose zu Pferde, steckte die Pistolen zu sich und hing den Säbel um die Schulter; dann band er sein Kopftuch mit dem Kamelhaarstrick fest, zog einen baghdadischen Ueberwurf und rote Stiefel an und steckte seinen Dolch zu sich. So ritt er in die Stadt hinter seinem Oheim drein. Daselbst stellte er seine Stute in die Herberge und ging in's Schloss zu Ibrahîm-Agha; da das Zimmer gedrängt voll war, setzte er sich bei den Schuhen und Stiefeln nieder und stopfte sich seinen Pfeifenkopf, wie ein Beduine. Sein Oheim aber sass mit Ibrahîm-Agha drinnen im Zimmer, welches voller Vornehmer war. Man bereitete Kaffe und reichte die Schale zuerst dem Mirſ-Agha; aber als dieser sie in die Hand genommen hatte und am Trinken war, nickte Ibrahîm Agha seinen Dienern mit den Augen zu: »Tödtet ihn«. Da fielen die Diener über Mirſ-Agha mit ihren Dolchen her. Dieser rief: »brr«, zückte seinen Dolch und hieb damit auf die Diener ein; aber er konnte nichts ausrichten; man tödtete ihn[9] im Ratszimmer. Da stand Ose auf, verrammelte die Thüre, griff Dach seinem Säbel und stürzte sieh auf die Versammlung. Er tödtete den Ibrahîm-Agha, dessen Sohn und die Vornehmen, und nachdem er volle siebzig erschlagen hatte, nahm er seinen Säbel und ging hinaus. Er begab sich in das Weibergemach Ibrahîm-Agha's; derselbe hatte zwei Töchter und eine Frau. Ose nahm die beiden Töchter mit, setzte sie eine jede auf ein Pferd und bestieg seine Stute; seinen ermordeten Oheim band er auf ein Maultier und brach nach Hause auf. Da stiess er auf einige seiner Kurden, die fragten ihn: »Was hast du ausgerichtet?« »Sie haben meinen Oheim ermordet, darauf habe ich siebzig von ihnen getödtet und die beiden Töchter des Ibrahîm-Agha mitgenommen, und da liegt auch mein ermordeter Oheim auf dem Maultiere«. Hierauf kamen sie nach Hause und stiegen ab; dann begruben sie den Oheim. Ose aber heiratete eines der Mädchen, und das andere gab er dem Dschelâl, dem Sohne Mirſ-Agha's, seinem Vetter, zur Frau.

Eines Tages log die Tochter des Ibrahîm-Agha, welche die Frau des Ose geworden war, ihrem Manne vor: »Ich habe Jemand zu deiner Schwester 'Amsche gehen sehen«. Da rief Ose seiner Schwester: »'Amsche!« »Was gibt's? mein Bruder«. »Ist es wahr, dass Jemand dich verführt hat?« »Nein, mein Bruder, sieh, ich bin so unverdorben wie süsse Milch; ich weiss, die Tochter des verfluchten Ibrahîm hat mir das angetan«. Da nahm er sie mit sich und sagte: »Schwester!« »Ja!« »Komm, wir wollen zusammen spaziren gehen«. Im Geheimen fürchtete sie sich und sprach zu sich selber: »Er will mich tödten«. Er nahm sie mit, und sie gingen in's Gebirge. Im Vorbeigehen erblickten sie eine Höle und liessen sich darin nieder, Ose mit seiner Schwester 'Amsche, die so schön war, wie keine in der ganzen Welt. Sie sprach zu sich selber: »Ich will mich schlafen legen, dann mag er mich tödten; aber mit offenen Augen fürchte ich mich vor dem Tode«. Darauf sagte sie weinend: »Bruder, ich will mich schlafen legen«. »Lege dich hin, Schwester«. Das tat sie, Ose aber begann die Oeffnung der Höle mit grossen Steinen zu verrammeln und ging dann fort nach Hause zurück.

Eines Tages aber ging Schêr-Bek, der Häuptling der Scher, auf die Jagd; da sprang eine Gaselle auf, und die Jagdhunde rannten ihr nach; bei der Oeffnung der Höle aber hielten sie an. Schêr-Bek ritt auf einer Stute, deren Sattel, Zügel und Bügel von Silber und Gold waren. Als nun die Jagdhunde an der Oeffnung der Höle heulten, spornte er seine Stute an und gelangte zu den Hunden;[10] darauf befal er den ihn begleitenden Fussgängern vorzurücken. Da kamen die Fussgänger, etwa tausend an der Zal (aber Dälli, sein Bruder, war mit ihm zu Pferde) und fragten: »Was gibt's, Herr?« Er befal ihnen: »Oeffnet den Eingang zu dieser Höle«. Das taten sie und erblickten, o Wunder, ein Weib, wie es nichts schöneres gab. Sie führten sie hinaus und fragten sie: »Woher kommst du?« Sie sagte aber nichts, sondern weinte bloss. Hierauf liess Schêr-Bek den Dälli von seinem Pferde absteigen und liess sie sich darauf setzen. Dann gab er ihr Wasser zu trinken und, da sie die Geberde des Essens machte, Brot zu essen. Da redete das Mädchen und fragte ihn: »Woher seid ihr?« »Ich bin Schêr-Bek, der Fürst der Schêrwa«. »Und du, woher bist du?« fragte man. »Ich bin die Schwester des Ose, des Kurdenhäuptlings; so und so hat die Frau meines Bruders an mir gehandelt; die Frau meines Bruders aber ist die Tochter des Ibrahîm-Agha, des Herrn von Bitlis«. Darauf fragte man sie: »Hast du keinen Mann?« »Nein«, antwortete sie. »Oder einen Verlobten?« »Nein«. »Bist du noch Jungfrau?« »Ja«. Da nahmen sie sie mit und kamen zum Schlosse Schêr-Bek's. Dälli behauptete: »Sie gehört mir«. Schêr-Bek aber antwortete: »Geh nur, wie werde ich sie dir zur Frau geben? sie gehört jedenfalls mir!« Schêr-Bek heiratete sie, und bei der Hochzeit ergab es sich, dass sie noch Jungfrau war. –

Einige Zeit nachher machte sich Ose auf und ging zu der Höle; als er aber Niemand fand, erkundigte er sich bei den Hirten; diese sagten, sie hätten sie nicht gesehen. Da stiess er auf einen Fuchs, dieser floh und rief von der Spitze eines Hügels: »Hollah!« Ose blieb stehen. »Deine Schwester, welche du suchst, hat Schêr-Bek weggeholt«. Ose ging in Folge dessen zu Schêr-Bek und trat in dessen Empfangszimmer; dort setzte er sich hin. Darauf zog man das Tischleder heran und setzte den Gästen die Abendmalzeit vor. Ose sagte aber zu Schêr-Bek: »Schêr-Bek!« »Ja!« »Hast du eine Frau in der Höle gefunden?« »Ja«, antwortete er. »Wo ist sie denn?« »Sie ist bei mir, ich habe sie geheiratet«. »Es möge dir zum Segen gereichen, aber bei deiner Liebe zu Gott, sage mir, war sie eine Jungfrau oder nicht?« »Sie war noch Jungfrau«. Da weinte Ose; Schêr-Bek aber fragte; »Warum weinst du?« »Sie ist meine Schwester«, antwortete er. Hierauf stand Schêr-Bek auf, nahm ihn am Arme und führte ihn in's Zimmer der 'Amsche: die beiden sahen einander an und weinten; darauf küssten sie einander, und Ose sagte: »Es macht nichts;[11] du bist wie in dein eigen Haus gekommen, da du in das Haus des Bek aufgenommen worden bist«. Schêr-Bek schenkte dem Ose die mit Silber und Gold bekleidete Stute und ein Ehrenkleid. Ose aber stieg zu Pferde, kam nach Hause, tödtete seine Frau und lud all sein Hausgerät auf; damit zog er zum Schlosse Schêr-Bek's und wohnte daselbst bei seiner Schwester.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 8-12.
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