XX.

[71] Es war einmal ein Mann, der hatte eine Frau, die gebar ihm einen Sohn und starb. Da nahm er eine neue Frau. Einst sagte der Junge: »Mutter, ich bin hungrig«. Da schlug sie ihn, er aber fing an zu weinen und ging grollend weg. Weg ging er und legte sich draussen vor dem Orte schlafen. Eben dahin kam ein Kaufmann, stieg in seiner Nähe ab und kochte sein Essen. Da kam der Diener des Kaufmanns zu dem Jungen und fragte ihn: »Wesshalb bist du hier?« »Ich bin ein armer Teufel« antwortete er. Der Diener ging zu seinem Herrn und sagte: »Herr, es ist ein Armer hier«. »Bringt ihm Essen« befal der Kaufmann. Als sie ihm aber Essen brachten, weigerte er sich, etwas davon zu gemessen. Der Kaufmann legte sich mit seinen Leuten schlafen.[71] Als es Mitternacht geworden, stand der Junge auf, suchte sich das Pferd des Kaufmanns aus, bestieg es und entfloh mit ihm in der Richtung nach Baghdad. Der Kaufmann erwachte und fragte: »Wo ist mein Pferd?« »Es ist verschwunden« erhielt er zur Antwort. »So seht zu, ob der Junge noch an seinem Platze ist«. Die Diener gingen hin und fanden ihn nicht. »Er hat's weggenommen« sagte der Kaufmann, »aber lasst ihn nur«. – Der Junge zog weiter und kam an ein Schloss; darin befand sich ein junges Mädchen. Er setzte sich zu ihr, bis es Abend wurde und sie das Abendessen bereitete, und vergnügte sich mit ihr.

Am Abend kamen die sieben Brüder des Mädchens von der Jagd. »Wer ist dieser?« fragten sie. »Ich bin ein Gast« entgegnete er. »Ganz zu Diensten« erwiderten sie. Als es Morgen würde, sagten sie zu ihm: »Komm mit uns auf die Jagd«. Das Mädchen aber wendete ein: »Er ist ein Gast, nehmt ihn nicht mit«. »Gut!« sagten sie, »lass ihn heute hier bleiben«. Sie gingen also, und er blieb; bis zum Abend lag er mit dem Mädchen zusammen und erfreute sich mit ihr an Brantwein, Wein und Liebe. Am Abend kamen die Brüder des Mädchens nach Hause, setzten sich und assen zu Nacht. Vier von ihnen sagten: »Wir wollen unsere Schwester diesem zur Frau geben«, die drei andern aber sagten: »Nein, wir geben sie ihm nicht«. Schliesslich überredeten jene diese und sie gaben sie ihm. Sie war aber schon dem Fürsten, ihrem Oheim, als Schwiegertochter versprochen. – Nachdem sie sie dem Jungen angetraut hatten, sagte dieser: »Ich will gehen und sieben Frauen für euch sieben holen«. Er ging und begegnete einem Bauer. »Bauer!« redete er ihn an. »Ja!« »Hast du keine Töchter zu Hause?« »Gewiss«. »Wie viele Töchter hast du?« »Sieben«. »So komm, lass uns zu eurem Hause gehen«. Er ging nun mit dem Bauern nach Hause und fand dort wirklich sieben Mädchen. Er nahm die sieben mit und begab sich wieder zum Schlosse der sieben Brüder. Da fand er aber das Schloss zerstört und die sieben Männer erschlagen, und seine Frau hatte man in's Haus des Fürsten geschleppt. – Er setzte sich in's Haus einer alten Frau und redete sie an: »Alte!« »Ja!« »Geh zu der Prinzessin«. »Ich wage es nicht«. »Wesshalb nicht?« »Die Leute des Fürsten haben ihre Brüder erschlagen«. »Geh, sage ihr: dein Gatte schickt mich; nimm dir diese Schale mit Milch, ich lege meinen Ring hinein«. Da ging die Alte zu ihr an die Zimmerthüre und rief: »Meine Herrin!« »Wer ist da?« »Lass mich zu dir hinein«. »Nein«. »Dein Mann schickt mich«. »So[72] komm«. Die Alte trat ein, tauchte den Löffel in die Milch und holte den Ring heraus. »Wo ist der Besitzer dieses Ringes?« fragte die Prinzessin. »Er wohnt bei mir, komm zu uns«. »Geh nur, ich komme schon«. Da zog sie ihre Schuhe an und begab sich zu ihm. Nun entführte der junge Mann die acht in seine Heimat; dort wohnte er bei seinem Vater, und man verheiratete die acht mit ihm.

Eines Tages gingen die Frauen zum Brunnen Wasser holen, da kam ein Riese und raubte die Schöne. Als die übrigen nach Hause kamen, fragte ihr Mann: »Wo ist die Prinzessin?« »Ein Riese hat sie entführt«. »Auf welchem Wege?« »Auf dem Wege oberhalb des Brunnens«. Da machte er sich hinter ihn her; nach fünf Tagen begegnete er einem Hirten, den redete er an: »Hirte!« »Ja!« »Ist hier nicht Jemand vorbeigekommen?« »Ja wol«. »Was war's?« »Ein Riese, er hatte eine Frau bei sich auf dem Pferde«. »Wohin ist er gegangen?« »Zu jener Höle«. Weiter verfolgte er ihn und gelangte zum Eingange der Höle. Dort erblickte er ihn schlafend, und die Prinzessin und noch eine andere sassen dabei, die Prinzessin weinte. Er trat ein. Die andere war noch schöner als seine Frau. Er ging auf den Riesen zu, erhob sein Schwert, um ihn zu schlagen, und hieb ihm mit demselben den Kopf ab. Dann nahm er die beiden mit sich und trat wieder aus der Höle hinaus, um nach Hause zu gehen. Nach Hause gekommen liess er sich auch jene noch antrauen. So hatte er nun neun Frauen. Gott war mit ihm und er wurde Fürst. Aber er liess Aussatz ihn befallen. Da fragte er die Aerzte: »Welches Mittel gibt's für diese Krankheit?« »Das Blut eines Knaben, welchen du schlachten musst«. – Der Ausrufer musste in der Stadt ausrufen: »Wer hat einen Knaben zu verkaufen?« Einer sagte: »Ich habe einen«. Aus Hunger verkaufte er ihn. Man brachtet den Knaben in den Palast. Wie er nun in der Hand des Henkers war, dass er ihm den Kopf abschlüge, da schaute der Knabe um sich, so schaute er, keinen Menschen sah er, weder Mutter noch Vater sah er, da erhob er seinen Kopf zu Gott. Da fragte der Fürst: »Wesshalb schaust du so um dich?« »Ich schaute auf zu Gott«, antwortete er, »Menschen habe ich nicht«. Da befal der Fürst: »Lasst ihn los, er mag nach Hause gehen«. Sie liessen ihn los, und er ging nach Hause, der Fürst aber genas.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 71-73.
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