XXV.

[88] Es waren einmal fünf Brüder, die hatten eine Schwester; da schickte der Häuptling der Jeſîden zu ihnen und liess sagen: »Ich will eure Schwester heiraten«. Der Name dieses Häuptlings war Pirkân-Agha. Schêch-Mûs, der älteste Bruder des Mädchens, sprach zu seinen Brüdern: »Freunde, wir wollen sie ihm zur Frau geben«. Jene aber entgegneten: »Es geht nicht an; wir wollen sie ihm nicht geben«. Sie schickten also den Boten zurück, und dieser ging dem Pirkân-Agha berichten: »Herr, sie wollen sie nicht geben«. Da sammelte er Soldaten und schickte sie gegen jene Leute; und der Bruder des Pirkân-Agha zog selbst zu Pferde mit den Soldaten. Sie entfalteten die Fahnen und zogen gegen jene fünf Brüder, deren Zelt auf dem Gebirge war; auf dieses Zelt marschirten sie los. Da stiegen die fünf Brüder zu Pferde, fassten ihre Lanzen und kämpften bis zum Abend; das ganze Heer tödteten sie; nur drei Soldaten blieben übrig; dem einen schnitten sie die Nase ab, dem andern die Zunge und dem dritten die Ohren und sagten zu ihnen: »Geht, und erzält eurem Herrn«. Da gingen die drei in das Empfangszimmer des Pirkân-Agha. Als er den einen, dem die Nase abgeschnitten war, fragte: »Was ist geschehen?«,[88] machte dieser: »hng hng hng«. »Bringt den andern«, befal er, und zu diesem gewandt: »Rede du«. Dieser machte: »mgâ-umgâ«. »Werft ihn hinaus«, rief er, »und bringt den dritten«. Da führte man diesen herzu. »Rede«, befal er ihm. Der sagte: »Hêê«. Da sagte Pirkân-Agha zu seiner Umgebung: »Steht auf, es ist ein grosses Unglück geschehen«. Darauf sammelte er Soldaten und zog gegen die Leute des Schêch-Mûs zu Felde. Sie lieferten eine Schlacht, tödteten die fünf Brüder und führten die Ssittîje [so hiess die Schwester] mit sich fort, und Pirkân liess sie sich antrauen. Als es Nacht wurde, wandte er alle Mittel an, um sie auf sein Lager zu bringen; es gelang nicht; da band er sie mit einem Stricke und tat ihr Gewalt an. Zehn Tage blieb sie dann in seinem Hause, ohne zu essen noch zu trinken. Eines Tages ging sie hinaus in's Freie; da sagte sie zu Jemand: »Ich will dir grossen Lohn geben, wenn du mich von hier wegbringst«. »Schön«, sagte dieser. Sie gab ihm hundert Piaster, und er brachte sie fünf Tagereisen weit weg, kehrte um und liess sie allein. Sie ging in der öden Wüste weiter und stiess auf ein Schloss; als sie näher kam, sah sie eine Affenmutter (Pîr Abôke) herauskommen; deren Brüste waren so lang, dass sie bis zwischen die Beine reichten; sie trug zottiges Haar; zwei ihrer Zähne gingen ganz in die Höhe und zwei ganz nach unten. Als das Mädchen herankam, öffnete sie ihr Maul, um es zu fressen; aber das Mädchen rief: »Ich bin ein Weib«. Wie die Schlossfrau von ihrem Zimmer aus dies hörte, schrie sie der Pîr Abôke zu: »Lass von ihr ab!« Da ging das Mädchen zur Schlossfrau hinauf: eine von ihnen war schöner als die andere. Jene fragte: »Woher kommst du?« »O meine Schwester«, entgegnete sie, »meine Geschichte ist lang«. »Fürchte dich nicht«, sagte die Frau, »so lange du bei mir bist, brauchst du keine Angst zu haben«. Da sassen sie bei einander bis zum Abend; am Abend aber kam Einer, das war der Löwenkönig, Namens Bani-Ssab'a, und setzte sich zu ihnen; denn die Frau war seine Geliebte. »Meine Herrin«, rief er, »Ja, Herr«. »Woher kommt diese da?« »Es ist eine Fremde«. »Sie sei willkommen«, sagte er. Als es Schlafenszeit wurde, breitete die Frau die Betten aus und legte sich nebst dem Mädchen und dem Löwenkönig schlafen; letzterer legte sich zwischen die Frauen und schlief mit beiden; so kam er jede Nacht und schlief bei ihnen, bis das Mädchen schwanger wurde. –

Eines Tages aber gingen die Frau und das Mädchen hinaus an die Quelle, um ihre Kleider zu waschen. Wärend sie dort assen,[89] kamen die Soldaten des Pirkân-Agha, hoben sie beide auf und nahmen sie mit sich fort. Als sie nach Hause kamen, brachte man die Frauen in ein Zimmer, und Pirkân-Agha sprach zu ihnen: »Ich will euch, beide mir antrauen lassen; diese hier war schon früher meine Frau, und jene will ich auch zu meiner Frau machen«. Er heiratete sie; aber die Frau, die er schon vorher gehabt hatte, gebar einen Sohn, der zur Hälfte ein menschliches Kind, zur andern ein Löwe war. Pirkân-Agha sagte: »Das geht nicht an; die Löwen haben sie geschändet; ich muss sie tödten«, und tödtete sie. Als nun ihr Sohn gross wurde, fragte er: »Wer ist meine Mutter?« Man sagte ihm: »Diese Frau da«, (indem man auf die Schlossfrau wies). Aber er glaubte es nicht. Eines Tages gestand ihm die Frau: »Du bist der Sohn des Löwenkönigs, und ich bin dessen Frau; jener da hat uns geraubt; als du zur Welt kamst, ermordete er deine Mutter«. Da schrieb der Knabe einen Brief, drückte sein Siegel darauf und schickte ihn an Bani-Ssab'a: »Bringe Soldaten von den Löwen mit und komm, den Pirkân-Agha zu bekriegen«. Der Jüngling schlief aber heimlich bei der Frau Pirkân's. Als das Heer des Löwenkönigs herangezogen kam, erschlug der Jüngling den Pirkân-Agha, entführte die Frau und ging unter die Soldaten der Löwen; darauf kämpften diese mit den Soldaten des Pirkân-Agha, entführten zwanzig Töchter von dessen Hause und kehrten zum Schlosse zurück. Dort wohnten sie. Da sagte die Frau zum Löwenkönig: »Dieser da ist dein Sohn«. »Ist es wahr?« »Ja«. »Wo ist denn seine Mutter?« fragte er. »Man hat sie ermordet«, antwortete sie. Die Frau und der Sohn des Bani-Ssab'a liebten aber einander; desshalb sagte der Löwenkönig zu ihr: »Frau«. »Was gibt's?« »Hat mein Sohn dir beigewohnt?« fragte er. »O Löwenkönig«, entgegnete sie, »hier hat er mir nicht beigewohnt, aber dort«. »So sei ich von dir geschieden«, sagte er und machte sie zu seiner Schwiegertochter. Die zwanzig Mädchen verheiratete er an zwanzig Löwen; da gebaren die Mädchen Söhne und Töchter, welche zur Hälfte Löwen und zur Hälfte Menschen waren. Auf diese Weise veränderte sich ihre ganze Art.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 88-90.
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