XXVII.

[94] Es war einmal – wer aber auch immer war, besser als Gott war Niemand – es war einmal ein König über die Halbmenschen, ein mächtiger König, der hatte ein kleines Söhnchen. Damals lebte auch Bani-Ssab'a, der Fürst der Löwen, aber von ihren Vätern und Grossvätern her waren der König der Halbmenschen und der König der Löwen mit einander verfeindet Da starb der König der Halbmenschen und hinterliess sein kleines Söhnchen. Der Löwenkönig aber berief die Vornehmen der Löwen zu sich. Diese versammelten sich bei ihm zur Beratschlagung und fragten nach seinem Begehr. »Macht euch bereit«, befal er; »wir wollen zur Todtenklage des Königs der Halbmenschen gehen, der gestorben ist.; obwol wir von unsern Vätern und Grossvätern her einander feind sind, so will ich doch hingehen-, das macht nichts aus«. Hierauf zog der Löwenkönig in Begleitung seiner Vornehmen zu der königlichen Residenzstadt der Halbmenschen; dort fanden sie das ganze Land der Halbmenschen im Königshause versammelt. Nun hiess es: »Der Löwenkönig ist zu uns gekommen«; da hielten zwanzig Mann die Stute und zwanzig halfen ihm absteigen. Dann trat er in's Zimmer, welches angefüllt war mit den Angesehenen der Halbmenschen; denn ihr König war gestorben. Daher nahmen sie ihm die Krone ab und setzten dieselbe dem Sohne, der im Zimmer sass, aufs Haupt. Darauf berichtete man ihm: »Der Löwenkönig ist gekommen«; da erhob er sich vor ihm, und der Löwenkönig machte eine tiefe Verbeugung bis an den Boden. Dann setzten sie sich hin, und jene richteten für den Löwenkönig und seine Angesehenen einen Schmaus her, den Schmaus für den Todten; dann redeten sie mit einander bis zum Abend. Darauf zerstreute sich die Versammlung, und es blieb nur der Löwenkönig und der Sohn des Königs der Halbmenschen sitzen; dieser sprach zu seinem Diener: »Ich bin schläfrig, bereite mein und des Löwenkönigs[94] Nachtlager oben auf dem Schlosse«. Der Diener gehorchte und kam ihnen sagen: »Steht auf, euch schlafen zu legen!« Da erhoben sich der Prinz und der Löwenkönig, und der Königssohn ging dem Löwenkönig voran. Er war noch sehr jung, nämlich erst sieben Jahre alt. So stieg er die Treppe hinauf, der Löwenkönig hinter ihm drein. Von den vielen und hohen Treppen wurde der Prinz müde; da nahm ihn der Löwenkönig auf den Arm und stieg höher hinauf; in Folge dessen wurde auch ermüde und sagte: »Wie ist doch dieses Kind eines verdammten Vaters so schwer!« Der Königssohn verstand das, was der Löwenkönig gesagt hatte; aber dieser dachte bei sich: »Woher soll dieser verstehen, was ich gesagt habe?« Indessen sagte der Prinz kein Wort, sondern sie legten sich für diese Nacht oben auf dem Schlosse schlafen; aber der Prinz war zornig; doch schliefen sie bis zum Morgen. Am andern Tage brach, der Löwenkönig wieder auf, stieg zu Pferde und ritt mit den Angesehenen, die ihn begleiteten, nach Hause; der Königssohn aber vergass das Wort, welches der Löwenkönig gesprochen hatte, nicht. Inzwischen wurde er gross und regierte über das Land der Halbmenschen noch besser, als sein Vater getan hatte. Da berief er einmal die Angesehenen der Halbmenschen, und diese versammelten sich vor ihm und fragten nach seinem Willen. Er antwortete: »Der Löwenkönig hat mich beschimpft; wir wollen nach ihm schicken und ihm sagen lassen: ›Komm hierher zu uns, damit wir uns einmal wieder sehen!‹« Jene waren damit einverstanden. Da schickte er einen Diener an ihn mit dem Auftrag: »Der König lässt dich bitten und ladet dich ein«. Der Löwenkönig brach in Folge dessen allein, nur in Begleitung des Dieners, auf und kam zum König der Halbmenschen. Dort begrüsste er die Anwesenden, und diese bewillkommten ihn. Nachdem sich der Löwenkönig gesetzt hatte, brachte man ihm Kaffe und reichte ihm die Tasse; da winkte der König der Halbmenschen seinen Dienern mit den Augen, und sie umringten den Löwenkönig. Dieser aber griff zum Dolche, knirschte mit den Zähnen und tödtete zwölf von den Dienern im Empfangszimmer; dann ging er auch auf den König zu mit dem Dolche in der Hand; der aber sagte: »Ich habe nichts davon gewusst, die Diener haben ganz ohne mein Vorwissen so gehandelt«. Der Löwenkönig antwortete: »Es hat nichts zusagen«. Darauf ging der König schlafen, wärend der Löwenkönig allein im Zimmer blieb, der König aber ging zu seinen Weibern; doch legte er vor die Thüre des Löwenkönigs vierhundert Mann mit dem Befehl: »Wenn[95] der Löwenkönig herauskommt, um zu beten, so tödtet ihn«. Diesem Befehle zu Folge bewachten sie daher die Thüre des Zimmers. Als es Morgen wurde, erhob sich der Löwenkönig vom Schlafe, nahm das eiserne Becken und ging zur Thüre hinaus; da richteten sie vierhundert Flinten auf ihn und tödteten ihn; hierauf legten ihn die Halbmenschen in's Grab. –

Der Löwenkönig hatte aber einen kleinen Sohn, Namens Sâhär; einst spielte dieser mit dem Sohne einer alten Frau das Knöchelspiel. Als der Sohn der Alten die Knöchel Sâhär's gewonnen hatte, verlangte dieser, dass er ihm die Knöchel wieder heraus gebe. Da jener sich nicht dazu verstehen wollte, zankten sie mit einander. Sâhär packte jenen beim Ohre und riss daran. Weinend ging der Sohn der alten Frau fort und sagte es seiner Mutter; diese fragte: »Warum weinst du?« »Sâhär hat mich am Ohre gerissen«, antwortete er. Hierauf ging die Alte zu Sâhär und sagte: »Freund, habe ich denn etwa deinen Vater getödtet, dass du meinen Sohn am Ohre reissest?« Er antwortete: »Da nimm die Knöchel«. Hierauf rief er: »Alte!« »Ja!« »Sage mit doch, wer hat meinen Vater getödtet?« »Geh«, sagte sie, »und frage deine Mutter!« Da kam er und sprach zu seiner Mutter: »Mütterchen!« »Ja!« »Wer hat meinen Vater getödtet?« »Niemand hat ihn getödtet«, antwortete sie; »sondern er ist eines natürlichen Todes gestorben«. »Nein«, entgegnete er, »ich will, dass du mir es erzälst«. Da weinte seine Mutter; er aber bat: »Weine nicht, sondern erzäle es mir!« Nun erzälte sie ihm: »Der König der Halbmenschen hat deinen Vater umgebracht«. – Hierauf nahm Sâhär sein Gewehr und seinen Dolch und zog in's Land der Halbmenschen; dort fragte er nach der Residenz des Königs. Bei Sonnenuntergang gelangte er zum Tore der Stadt; die Torwächter aber verrammelten dasselbe; da rief er: »Oeffnet das Tor!« »Wir öffnen es nicht«, antworteten sie. »Ich habe etwas mit dem König zu tun«. »Warte bis morgen!« antworteten sie. »Aber ich habe ihm ein Schreiben aus dem Affenland vom Affenkönig mitgebracht«. Da Öffneten sie ihm das Tor, rieten ihm aber: »Geh nicht in die Stadt hinein, damit dich nicht die Scharwächter greifen, sondern lege dich hier bei uns schlafen, bis zum Morgen«. Er folgte ihrem Rate, am Morgen aber stand er auf und erkundigte sich nach dem Schlosse des Königs, und als er es gefunden hatte, fragte er: »Ist der König drinnen?« »Nein«, antwortete man. »Wohin ist er denn gegangen?« »Auf die Gazellenjagd«, sagten sie. »Auf welchem Wege?« fragte er. »Auf dem Wege der Erdgrube«, entgegneten[96] sie, »warum?« »Ich habe ihm einen Brief gebracht«, sagte er. Darauf erkundigte sich Sâhär nach dem Wege zur Erdgrube und schlug denselben ein. Dort erblickte er den König der Halbmenschen, wie er zu Pferde einer Gaselle nachjagte; da setzte sich Sâhär mit dem Gewehr vor ihn auf den Boden und schoss auf ihn. Der Schuss ging in die Schamhare und flog zum Rücken wieder heraus; der König wurde dadurch vom Pferde heruntergeworfen; Sâhär aber entfloh nach Hause, ohne dass ihn Jemand sah. Darauf suchten die Soldaten der Halbmenschen, welche den König begleiteten, denselben und fanden ihn wie todt hingestreckt, da banden sie ihn auf ein Maultier und brachten ihn in die Stadt. Da noch Leben in ihm war, riefen sie die Aerzte zum König, und diese heilten ihn. Darauf erkundigte sich der König: »Wer hat jenes Gewehr auf mich abgeschossen?«, und man antwortete ihm: »Es ist Jemand hergekommen und hat gesagt: ›Ich habe einen Brief für den König mitgebracht‹; er kam früh am Morgen und hat dir nachgefragt; hast du ihn nicht gesehen?« »Nein«, antwortete er. »Dieser hat das Gewehr auf dich abgeschossen!« Da rief der König die Torwächter und fragte: »Ist in der Nacht Jemand von draussen hereingekommen?« »Ja«, antworteten sie, »es ist Jemand angekommen, und wir haben ihm das Tor geöffnet; denn er gab vor, er habe einen Brief für den König gebracht«. Da sagte er: »Dieser hat das Gewehr auf mich abgeschossen; forscht ihm nach!« Man erkundigte sich nach ihm, und da hiess es: »Es war Sâhär, der Sohn des Löwenkönigs«. »Aha«, sagte der König, »er hat Rache für seinen Vater nehmen wollen«. –

Als Sâhär vernahm, dass der König der Halbmenschen wieder gesund geworden war, schrieb er einen Brief und schickte denselben an Dêve-räsch, den schwarzen Wolf, den König der Wölfe, des Inhalts: »Ich will dir meine Schwester zur Frau geben, wenn du ein Heer von Wölfen sammelst und zu mir stössest«. Das Schreiben ging an den schwarzen Wolf ab; dieser zog alle Wölfe zusammen, entfaltete die Banner und kam zu Sâhär unter die Löwen. Darauf versammelte Sâhär alle Löwen und vereinigte das Heer der Löwen mit dem der Wölfe; so zogen sie gegen den König der Halbmenschen. Als der König der Halbmenschen davon Kunde erhielt, sandte er an den König der Affen die Weisung: »Sammle ein Heer und stosse zu mir«. Da versammelte der Affenkönig alle Affen, und das Heer der Affen wurde mit dem der Halbmenschen vereinigt. Hierauf lieferten sie Sâhär eine Schlacht.[97] Da zog Sâhär sein Schwert, und der schwarze Wolf zog sein Schwert; so stellten sie sich hinter die Reihe der Soldaten; wer die Flucht ergriff, den schlugen sie todt. Aber auch auf jener Seite stellten sich die Könige hinter die Soldaten und erschlugen jeden, der die Flucht ergriff. So kämpften sie mit einander, ohne dass ein Heer das andere besiegte. Darnach zog Sâhär seine Kopfbedeckung ab, rief den Löwen zu und fasste sein Schwert; da besiegten die Löwen und die Wölfe das Heer der Unholde und der Affen, verfolgten sie und liessen sie nicht mehr in die Stadt der Halbmenschen hinein, sondern die Halbmenschen und die Affen mussten mit einander in der Richtung des Affenlandes fliehen. Jene nahmen die Stadt der Halbmenschen in Besitz, und Sâhär hielt seinen Einzug in dieselbe, er, der schwarze Wolf und das Heer; das Schloss des Königs nahm er zu seiner Wohnung. Der König der Halbmenschen hatte aber eine Schwester und eine Frau; da sagte Sâhär zum schwarzen Wolf: »Seine Schwester möge mir, seine Frau aber dir zu Teil werden«. »So möge es sein«, antwortete dieser. Ihre Soldaten misshandelten aber die Weiber der Halbmenschen auf schreckliche Weise. Sâhär und der schwarze Wolf schliefen in der Stadt. Als sie am Morgen aufstanden, fanden sie, dass das feindliche Heer die Stadt ganz umringt hatte. Da machten sie sich mit ihrem Heere auf und zogen zur Stadt hinaus zur Schlacht. Sie kämpften mit jenen und tödteten eine grosse Anzal von den Soldaten der Halbmenschen und der Affen; aber auch die Halbmenschen tödteten den Bruder des schwarzen Wolfes und neun von den Soldaten der Löwen und der Wölfe; doch wurde das Heer der Unholde endlich geschlagen. Da nahmen sie die Schwester und die Frau des Königs, ferner zwanzig Knaben von den Unholden mit sich fort und brachten dieselben als Gefangene nach Hause. Daselbst liess sich Sâhär die Tochter des Königs, der schwarze Wolf hingegen die Frau des Königs antrauen, und Sâhär gab dem schwarzen Wolf obendrein noch seine Schwester zur Frau. Darauf zog der schwarze Wolf nach Hause, die Gefangenen aber blieben bei Sâhär.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 94-98.
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