[103] Es war einmal ein Mädchen, das hatte vier Brüder. Sie war weltberühmt, denn es gab keine schönere als sie. Die Minister warben um sie, aber sie wollte keinen Mann nehmen. Nun lebte auch einer Namens 'Osmân Agha, ein wunderschöner Jüngling; zu ihm sagten die Leute: »'Osmân Agha! weisst du was?« »Nun?« »Wer für dich passt?« »Wer denn?« »Die Châneme«, antworteten sie ihm, »sie wohnt im Schlosse von 'Abd-el-'aſîſ«.[103] »Ich will mich zu ihr begeben«, sagte er, und machte sich reisefertig. Als er von Hause aufbrach, fragte ihn seine Mutter: »Mein Sohn, wohin willst du gehen?« »Mutter«, antwortete er, »ich will gehen, lass mich, ich will gehen«. So brach er auf und forschte nach dem Schlosse; nach 15 Tagereisen gelangte er zu einem Wasserbehälter; da zog er Brot aus der Tasche und ass; auch eine Pfeife stopfte er sich und rauchte sie. Hierauf gelangte er zum Schlosse; dasselbe war hoch, hatte ein eisernes Hoftor und eine Verschlusstange von Blei; an diesem Tore klopfte er an. »Wer ist da?« fragte die Sclavin. »Ich bin es«, antwortete er. Da öffnete sie das Tor und verschloss es wieder; dann ging sie zu ihrer Herrin hinauf und kündigte ihr an: »Herrin, es ist Jemand vor dem Tore«. »Geh«, antwortete diese, »wenn er hässlich ist, so lass ihn nur umkehren; aber wenn er schön ist, so öffne ihm; sollte er jedoch (im ersteren Fall) nicht fortgehen, so will ich das Fernrohr nehmen und ihn mir ansehen, und dann meinen Brüdern rufen, damit sie ihn in kleine Stücke so gross wie Ohrläppchen hauen«. Die Sclavin ging und öffnete das Tor; er stieg hinauf und trat in das Oberzimmer; hierauf näherte er sich ihr und begrüsste sie. Sie aber erhob sich vor ihm und sah, dass er schön war, und er gefiel ihr wol; auch er betrachtete sie und verliebte sich zum Sterben in sie; denn sie sass da auf dem Sofa auf seidenen Polstern, gestützt auf ein Kissen von Straussenfedern, in ihrer Hand eine Pfeife, woran eine Bernsteinspitze war; und ihre Finger voll kostbarer Ringe. »Was willst du?« fragte sie ihn. »Du weisst es«. »Woher soll ich es wissen?« sagte sie. »Ich bin um deinetwillen hierher gekommen«. »Schön«, antwortete sie, »aber ich habe eine Bedingung zu machen; wenn du sie erfüllst, so will ich dich heiraten, und wenn du sie nicht erfüllst, so heirate ich dich nicht«. »Sprich, was ist das für eine Bedingung?« fragte er. »Wenn du mir eine Spanne von der Edelsteinschärpe der Tochter des Löwenkönigs bringst, so will ich dich heiraten«. Er antwortete: »Ich weiss ja nicht, wo die ist«. »Wie hast du denn«, fragte sie, »den Weg hierher gefunden und kannst jenes nicht erfahren?« »Ich will gehen«, sagte jener. Da zog er in die weite Welt und fragte nach, Stadt um Stadt, und reiste; endlich gelangte er in das Land der Finsterniss, wo Nachts Finsterniss ist und am Tage Finsterniss; dort legte er sich Nachts schlafen; als er seine Uhr öffnete, war die Nacht vorbei, aber der Tag war finster. Da stieg er zu Pferde und stiess auf eine Affenmutter, die mit aufgerissenem Maule auf ihn zu kam; er aber zog das Schwert und ging auf sie los; da[104] massen sie sich im Ringkampf und er warf sie; aber als er zum Schwerte griff, um sie zu tödten, entblösste sie ihre Brust und rief: »Halt, ich bin ein Weib«. »Ich will dich aber umbringen«, sagte er. »Tödte mich nicht«, bat sie; »was auch dein Vorhaben sein mag, ich will es vollbringen«. Er sagte: »Gib mir das Versprechen, dass du mich nicht mehr angreifen willst, und schneide eine Zotte von deinem Hare ab und gib sie mir«. Das tat sie, und sie gingen zusammen weiter und reisten, bis sie das Land der Finsterniss hinter sich hatten. Da rief sie: »'Osmân Agha! nun zeige dich als Mann, denn wir sind in das Land der Löwen gelangt«. Im Weitergehen stiessen sie auf ein Gelage der Elfen und belauschten eine derselben, welche ein Knäblein zur Welt brachte; dieses packte die Affenmutter, wärend die Mutter des Knäbchens entfloh. »'Osmân Agha«, rief die Affenmutter, »nimm den Knaben da, und lass uns weiter gehen«. So kamen sie in ein Dorf der Elfen und machten daselbst Halt, er und die Affenmutter nebst dem Knaben, und assen ihr Brot. Da kam Jemand und rief: »Steht auf!« »Wohin?« fragten sie. »Der König der Elfen verlangt nach euch«. Sie gingen zu ihm hin, und als sie vor ihn traten, fragte er: »Wo habt ihr diesen Knaben gefunden?« »Auf dem Gebirge«, antworteten sie. »Er gehört zu uns«, sagte er. »Aber wir wollen ihn nicht hergeben«. »Was immer ihr verlangt, wollen wir euch geben, gebt uns ihn nur heraus«. Die Affenmutter antwortete: »Gebt uns zwei von euren Tarnkappen«. »Da nehmt sie euch!« Sie gaben ihnen solche, und jene lieferten den Knaben wieder aus. Als sie sich anschickten weiterzugehen, lud der Geisterkönig sie ein: »Wenn ihr von eurem Reiseziel zurückkehrt, so kommt zu mir«. Sie sagten zu. Darauf gingen sie mitten in's Land der Löwen hinein, dort zogen die Affenmutter und 'Osmân Agha ihre Tarnkappen an; so gingen sie ungesehen an den Löwen vorbei, aber die Löwen zitterten, und der Erdboden zitterte. Darauf gingen sie zur Wohnung des Löwenkönigs und sahen, dass ungefähr hundert Löwen das Hoftor bewachten. Sie aber traten hinein, ohne dass Jemand sie sah, und gingen in's Zimmer der Königstochter. Diese war seit etwa einem Monate besessen geworden und lag nackt da. Die Affenmutter aber sagte zu 'Osmân Agha: »Herr, ich kann die Edelsteinschärpe nicht entdecken«. »Aber was sollen wir dann tun?« fragte dieser. »Ich weiss nicht, aber langsam, warte!« Als es Nacht geworden war, erschien die Affenmutter der Prinzessin und sprach zu ihr: »Du wirst nicht gesund werden, wenn du nicht die Edelsteinschärpe in[105] die Nähe deines Kopfkissens legst«. Darauf zog sie ihre Tarnkappe wieder an. [Am Morgen] rief die Königstochter ihrer Mutter: »Mutter, komm hierher!« »Was gibt's? mein Kind«. »Bringe mir meine Edelsteinschärpe und komm zu mir«. Sie brachte ihr dieselbe; sie zog sie an und sagte: »Mutter, ich bin gesund geworden«. »Schön, Gott sei Dank!« Als der Tag sich neigte, setzte man ihr Speise vor, und nachdem sie gegessen hatte, legte sie sich schlafen; die Edelsteinschärpe aber legte sie neben ihr Kopfkissen. Nun nahm die Affenmutter die Schärpe und machte sich mit 'Osmân Agha auf den Weg; die Königstochter aber wurde wieder besessen, als die Schärpe weg war. Auf ihr Geschrei kam ihre Mutter und ihr Vater, gingen zu ihr hinein und fragten: »Wo sind die Edelsteine und die Schärpe?« Sie antwortete: »Hier waren dieselben bei meinem Kopfkissen; man hat sie weggenommen, und ich bin (wieder) besessen geworden; es ist eine Frau gekommen und hat mir gesagt: ›Wenn du nicht die Schärpe neben dein Kopfkissen legst, so wirst du nicht gesund werden‹; da habe ich sie dorthin gelegt, bin eingeschlafen, und nun ist sie verschwunden«. Hierauf forderte der Löwenkönig alle Löwen des Landes auf, die Edelsteinschärpe zu suchen. Man liess keinen Ort undurchsucht; aber die Löwen gingen an jenen beiden vorbei, ohne sie zu sehen. Als der Tag sich neigte, versammelten sich die Löwen bei ihrem Könige und berichteten ihm, sie hätten Niemand gesehen. »Aber was sollen wir machen?« fragten sie, »die Elfen haben sie gestolen«. – Unterdessen reiste die Affenmutter und 'Osmân Agha weiter. Der Löwenkönig aber stieg zu Pferde und zog zum König der Elfen. Er kehrte bei ihm ein, und jener erwies ihm grosse Ehre und fragte ihn: »O König, was ist dein Anliegen, dass du mit deinen Soldaten zu mir gekommen bist?« Dieser antwortete: »Meine Tochter ist wahnsinnig geworden; sie besass eine Edelsteinschärpe, und die ist verschwunden; nun wagt Niemand mehr zu ihr zu gehen; ich bitte dich, du wollest deine Untertanen darnach fragen«. Da rief der König alle Elfen zusammen und fragte: »Heda, hat Niemand von euch die Edelsteinschärpe der Tochter des Löwenkönigs gesehen?« »Nein«, antwortete man. Nur einer in der Versammlung sprach: »Ich habe einen Mann und ein Weib gesehen, welche von unsern Tarnkappen auf dem Kopfe hatten; in der Nacht habe ich sie hier vorbeigehen sehen, wärend ich (draussen) ein Bedürfniss verrichtete; aber ich habe nicht mit ihnen gesprochen, denn ich dachte, vielleicht geschieht es auf Geheiss unseres Königs«. Da befal man jene zu verfolgen. Man ritt ihnen nach bis[106] in das Land der Finsterniss; dann aber kehrten die Verfolger nach Hause zurück, ohne Jemand gefunden zu haben, und berichteten dies den beiden Königen. Der Löwenkönig kehrte nun nach Hause zurück; seine Tochter aber starb, die Geister hatten sie erwürgt. Osmân Agha und die Affenmutter reisten weiter; als sie jedoch das Land der Finsterniss wieder hinter sich hatten, sagte sie zu 'Osmân Agha: »Nimm diese Kappe und geh; ich will in meine Wohnung zurückkehren; Gott sei mit dir! es ist nun keine Gefahr mehr vorhanden«. Da zog 'Osmân Agha weiter; er gelangte zu dem Schlosse und ging hinein. Die Schärpe hatte er mitgebracht und gab sie der Prinzessin. Diese stand auf und küsste ihn. Darauf nahm er sie und die Sclavin mit sich nach Hause und liess sich die Prinzessin antrauen. Er veranstaltete einen grossen Hochzeitsschmaus; ein ganzes Jahr lang bewirtete er die Leute, und ich bin auch dabei gewesen.
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