XXX.

[107] Es war einmal einer Namens Chân Dimdim unter den 'Akkarî, der hatte zwei Söhne, einen älteren und einen jüngeren. Der jüngere pflegte um Geld zu knöcheln, indem er mit zwei andern Knaben spielte. Einst rief ihn Chân Dimdim und sagte: »Jetzt hast du genug geknöchelt«, und gab ihm Schläge. Dann rief er die Väter jener andern Kinder und befal ihnen: »Schlagt eure Knaben, damit sie nicht mehr knöcheln; ich habe den meinigen geschlagen«. Da schlugen auch sie ihre Söhne. Der Sohn des Chân Dimdim aber machte sich auf, rief jene beiden und sagte: »Unsre Väter haben uns geschlagen; auf, wir wollen uns davon machen«. Er riet ihnen: »Wir wollen in das Land der Löwen gehen; da ist ein Festplatz, zu welchem jeden Monat einmal die Mädchen der Löwen hinaufgehen«. »Nur zu«, sagten jene. Sie machten sich auf den Weg und gingen auf und davon. Darauf kamen sie in's Gebirge und legten sich Nachts daselbst alle drei schlafen. Sie horchten auf, da drang Geschrei der Wölfe zu ihnen, die einander zuheulten und riefen: »Wir sterben vor Hunger«. Der Sohn des Chân Dimdim verstand aber, was die Wölfe sagten. Als es Tag wurde, zogen sie im Gebirge weiter, ohne in die Dörfer zu gehen; aber unterwegs wurden sie durstig und suchten nach Wasser. Da fanden sie ein Wasserloch im Felsen, tranken Wasser und legten[107] sich schlafen; dann gingen sie im Gebirge weiter und lagerten sich an einem Orte. Als die Sonne untergegangen war, vernahmen sie lautes Geräusch, die Stimmen der mit einander redenden Löwen und Bären, welche zu dem Festplatze kamen. Da hörte man die Stimme der Bärin, wie sie zum Löwen sagte: »Ich sterbe fast vor Hunger«. Die drei setzten sich hinter einen Stein und horchten auf die Bärin und den Löwen. Die erstere sagte zum Löwen: »Lass uns nach Hause gehen, dort liege bei mir«. Da lachte der Sohn des Chân Dimdim; aber die Bärin und der Löwe kamen auf die Knaben los; denn der Löwe sagte zur Bärin: »Es ist hier eine Stimme laut geworden«. Der Sohn des Chân Dimdim aber sprach: »Jungen, nun ist's aus mit uns; sie werden uns fressen«. Der Löwe und die Bärin kamen an sie heran und packten sie, da sagte die Bärin: »Einer sei für mich und einer für dich«. Der Sohn des Chân Dimdim verstand aber, was sie sagten. Da packte der Löwe einen und die Bärin einen; einer blieb übrig; diesen erwürgten sie und rissen ihn mitten durch, eine Hälfte für den Löwen, die andere für die Bärin. Jedes frass seine Hälfte, dann packten sie die beiden andern Knaben am Arm und führten sie weg; die Bärin ging nach Hause und der Löwe ging nach Hause; wir aber wollen von der Bärin erzälen. Sie nahm den einen Knaben mit sich fort, wärend der Sohn Chân Dimdim's vom Löwen weggeführt wurde. Die Bärin ging also mit dem Knaben und liess ihn in ihre Höle hineingehen; da fing er an zu weinen, aber sie sagte: »Weine nicht!« – er verstand jedoch nicht, was sie sagte –, nahm ihr Umschlagtuch, wischte seine Thränen ab und sagte: »Weine nicht«. Dann führte sie ihn hinein zu einem einzig schönen Mädchen; da erholte sich des Knaben Herz und er hörte auf zu weinen. Sie liess ihn sich zu dem Mädchen setzen. Darauf trugen sie ihm Speise auf und assen. Das Mädchen war die Tochter des Fürsten der Unholde, und die Bärin hatte sie geraubt. Als die Sonne untergegangen war, liess die Bärin das Mädchen sich niederlegen und den Jüngling sich zu demselben legen, damit er ihr beiwohne; sie selbst aber sass lachend dabei; darnach liess sie den Jüngling sich erheben und sich zu ihr selber legen. So taten sie von da an jede Nacht. Wenn die Bärin aber auf die Jagd ging, so blieb der Jüngling und das Mädchen zu Hause, und da sie nichts zu tun hatten, spielten sie mit einander bis zum Abend. Nachts kam dann die Bärin zurück und liess den Jüngling bei sich schlafen; am Tage überliess sie ihn dem Mädchen. So wuchs er heran und wurde zum Manne; das Har an seinem[108] Körper wurde fingerlang, und er war nackt wie eine Messerklinge. Tag und Nacht kam er nicht heraus; er wusste nicht, wann es Nacht war, und nicht, wann es Tag war. – Einmal besuchte die Bärin den Löwen und fragte ihn: »Wo ist dein Junge?« »Der Löwenkönig hat ihn mir weggenommen«, antwortete dieser. Der Löwe, welcher den Knaben, den Sohn des Chân Dimdim, mitgenommen hatte, hatte ihn alle Tage geschlagen; da hörte der Löwenkönig, dass jener Löwe einen Knaben bei sich habe, und sandte zwei Diener mit dem Befehl: »Geht und holt ihn mir!« Diese gingen hin und holten ihn zum Löwenkönig. Wenn die Löwen unter einander redeten, verstand aber der Sohn des Chân Dimdim, was sie sprachen. Der Löwenkönig sagte: »Wir wollen ihn tödten«; da weinte der Knabe; daher liess es die Frau des Löwenkönigs nicht zu, sondern sprach zu diesem: »Deine Tochter sitzt in einem Zimmer, dessen Thüre zwar hinter ihr verschlossen ist, aber du bist doch nicht sicher, dass nicht einer der Löwen zu ihr hineingeht; setze ihn daher zu ihr und lass ihn sie bedienen«. Darüber freute sich der Jüngling. Man brachte ihn nun zu ihr, er wohnte bei ihr und wurde ihr Diener; wenn sie Wasser verlangte, reichte er es ihr, und da er ihre Sprache verstand, tat er Alles, was sie befal. Da gewann ihn der Löwenkönig und die Frau desselben so lieb wie ihr eigenes Kind und hätten ihn um keinen anderen hingegeben. Nachts aber schlief er im Zimmer bei dem Mädchen, jedoch in einem besonderen Bette. Bald machte ihn der Löwenkönig zum Aufseher über sein ganzes Hauswesen. Eines Nachts aber erhob sich das Mädchen und rief ihm; da kam er zu ihr; sie liess ihn sich in ihr Bett legen, und er wohnte ihr bei. – Darauf freite der Löwenkönig seinem Sohne die Tochter des Elfenkönigs mit Namen 'Adle; wenn du in der ganzen Welt suchst, findest du keine ihres gleichen; sie war jung, erst zehn Jahre alt. Der Löwenkönig liess sie holen und in sein Haus führen; aber sie verstand die Sprache der Löwen nicht. Weil nun der Sohn des Chân Dimdim die Sprache der Elfen sowol, als die der Löwen verstand, wurde er Dolmetscher zwischen den Löwen und der Tochter des Elfenkönigs und teilte den Angehörigen des Löwenkönigs mit, was jene verlangte. Da sagten sie: »Vater, lass ihn nicht bei unsrer Tochter bleiben, sondern lass ihn in den Dienst der Schwiegertochter treten; denn sie kennt die Sprache hier nicht«. Die Töchter des Löwenkönigs aber wurde zornig über ihren Vater und sagte: »Ihr wollt mir meinen Diener wegnehmen, um ihn meiner Brudersfrau zu geben?« Der Löwenkönig[109] aber antwortete seiner Tochter: »Er soll euch beide bedienen«. So diente er den beiden, und auch die Tochter des Elfenkönigs bat ihn, ihr beizuwohnen. Dies tat er denn auch, ohne dass die Hausbewohner es merkten. Einst sagten der Löwenkönig und die Löwen: »Wir wollen unsre Mädchen und unsre Weiber auf den Festplatz schicken«. Da bestiegen die Tochter des Löwenkönigs und die Tochter des Elfenfürsten eine jede ihr Pferd, und ihr Diener begleitete sie. So gelangten sie zum Festplatz dort stiegen sie von den Pferden ab. Auf diesem Festplatz versammelten sich alle Töchter und Weiber der Löwen; aber Männer kamen nicht hin; das war verboten. Der Diener aber kam mit der Tochter des Löwenkönigs und dessen Schwiegertochter dorthin; man tanzte und sang auf dem Festplatz. Da erblickte er auch die Bärin, welche seinen Freund mit sich genommen hatte, und redete sie in der Bärensprache an. Sie antwortete: »Woher verstehst du diese Sprache?« »Das ist mir von Gott gegeben«, sagte er. Die Bärin erzälte: »Dein Freund war bei mir, und auch die Tochter des Königs der Halbmenschen befand sich bei mir; diese hat er entführt und ist davon gegangen; ich weiss nicht, wohin sie gezogen sind; suche sie; wenn du sie nicht suchst, so bringe ich dich um«. Da ging er hin und erzälte der Tochter des Löwenkönigs und der Tochter des Elfenkönigs: »Die Bärin hat zu mir gesagt, ich will dir den Kopf abreissen«. Die beiden riefen der Bärin; die kam heran, und sie fragten sie: »Warum sagst du unserm Diener, ich will dir den Kopf abreissen?« Die Bärin starb beinahe vor Furcht, jene aber warfen sie zu Boden, und es kamen alle Weiber der Löwen vereinigt auf sie los; eine jede riss ein Stück von ihr ab und verzehrte dasselbe. Darauf stiegen sie zu Pferde und kamen nach Hause zum Löwenkönig zurück; der Jüngling aber bediente die beiden und lag bei ihnen beiden. Er traf mit ihnen die Verabredung, sie beide zu entführen. Die Tochter des Elfenkönigs schenkte ihm eine Tarnkappe der Elfen, und er sagte zu ihnen in ihren beiden Sprachen: »Ich will nach Hause reisen, dann wiederkommen und euch entführen«. »Gut«, sagten sie; »bitte den Löwenkönig um Urlaub; aber halte dich nicht auf!« Er bat um drei Tage Verzug, und sie gestatteten es. Darauf schrieben die Tochter des Löwenkönigs und die Tochter des Elfenfürsten einen Brief und schickten ihn an den Löwenkönig; dieser las denselben und sagte: »Ja, er möge reisen«. Da zog er die Tarnkappe an und reiste in die Heimat, noch eine zweite Tarnkappe nahm er mit. Unterwegs aber gelangte er zu einer Höle und trat hinein,[110] die Tarnkappe auf dem Kopfe. Da fand er seinen Gefährten und die Tochter des Königs der Halbmenschen; jener erzälte eben das Schicksal, das ihn und seine Gefährten betroffen hatte, der Tochter des Königs der Unholde, die bei ihm war. Darauf zog er die Tarnkappe ab und rief: »Bruder«. »O mein Lieber«, antwortete dieser; dann küssten sie einander, und jener sagte zu dem Mädchen: »Dieser hier ist mein Bruder«. Darauf weinten sie über ihren dritten Gefährten; der Sohn des Chân Dimdim aber sagte: »Fürchte dich nicht, ich habe die Bärin getödtet«. Jene Nacht schliefen sie in der Höle, am Morgen aber brachen sie auf. Als sie in ihre Heimat kamen, erkannte man sie nicht mehr; da redete der Sohn des Chân Dimdim mit seinem Vater, und dieser erkannte ihn. »Und wer ist dieser da?« fragte man. »Das ist der Sohn des und des!« antwortete er. Da freuten sie sich über sie und fragten: »Wo ist euer Gefährte?« »Man hat ihn getödtet«, antworteten sie. Da weinten dessen Eltern. Der Sohn des Chân Dimdim aber sagte zu seinem Bruder: »Bruder, es sind zwei Weiber bei den Löwen im Hause des Löwenkönigs, die eine dessen Tochter und die andere dessen Schwiegertochter; es gibt nichts schöneres, als jene; und ich habe ihnen versprochen, ich würde sie entführen«. Da sagte jener: »Auf, wir wollen sie holen«. Nun gab er seinem Bruder eine von den Tarnkappen der Elfen, so reisten sie und kehrten in's Löwenland zurück. Dort ging er in das Zimmer der Tochter des Elfenfürsten. Sie erblickte die beiden, und sie redeten mit einander. »Wer ist dieser da?« fragte sie. »Es ist mein Bruder«, antwortete er; »du aber schicke Botschaft an die Tochter des Löwenkönigs und lass ihr sagen: komm heute zu mir; damit wir euch entführen können«. Da schickte die Tochter des Elfenkönigs zur Tochter des Löwenkönigs und liess ihr sagen: »Komm heute zu mir«. Die Tochter des Löwenkönigs machte sich auf und kam; dort sassen sie beisammen; er aber zog die Tarnkappe ab, so dass sie ihn erblickte; da freuten sie sich sehr. Dann rief er seinem Bruder, hervorzutreten. »Wer ist dieser?« fragte sie. »Es ist mein Bruder«, antwortete er. »Auf denn, lasst uns fliehen«, sagten sie. Darauf zogen sie auch noch der Tochter des Löwenkönigs eine Tarnkappe an und machten sich alle viere auf die Flucht, ohne dass sie Jemand sah. Auf dem. Wege aber bekam der Sohn des Chân Dimdim mit seinem Bruder Streit über die Tochter des Elfenfürsten; jener sagte: »Sie soll mir gehören«, und dieser sagte: »Sie soll mein sein«; da tödtete er seinen älteren Bruder und brachte die beiden Mädchen[111] nach Hause. »Wo ist dein Bruder?« fragte man ihn. »Man tat ihn getödtet«, antwortete er; er sagte nicht: »Ich habe ihn getödtet«, sondern: »man hat ihn getödtet«. Darauf liess er sich die beiden antrauen. Als die Löwen davon hörten, fragten sie: »Wer hat sie entführt?« »Der Sohn des Chân Dimdim«, antwortete man. Da hiess es: »Deren Schloss ist allzufest«.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 107-112.
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