XXXVII.

[142] Es waren einmal zwei Brüder; der eine war ein Kaufmann, der andere ein armer Teufel. Der Kaufmann besass grossen Reichtum, auch hatte er einen Sohn. Aber der Kaufmann wurde krank; da gab er die Maultiere und die Waren seinem Bruder, indem er ihm sagte: »Treibe du an meiner Statt Handel, bis ich wieder gesund werde«. »So sei es!« sagte der Bruder, trieb Handel, kaufte und verkaufte, so dass des Geldes viel wurde. Der Kaufmann aber sprach zu seinem Sohne: »Mein Sohn!« »Ja!« »Meine Sünde komme über dich – Brantwein trinke nicht, mit Würfeln spiele nicht, iss so lange du gesund bist, das Geld wird nicht zu Ende gehen«. »So soll es sein!« sagte der Junge, und der Kaufmann starb. Der Junge wusste aber nicht, dass die Maultiere und die Waren sich bei seinem Oheim befanden. Er ging hin, trank Brantwein und spielte mit Würfeln; zehn junge Burschen nahm er mit sich und liess nicht zu, dass sie etwas ausgaben; für sein Geld liess er sie trinken und auf seine Kosten essen, bis dass er ganz arm wurde und nicht Brot genug hatte, um satt zu werden. Da traf ihn sein Oheim und fragte ihn: »Wie kommst du in diese Lage?« »Wie so?« erwiderte er. »Du bist ja arm geworden«. »Mein Vater befal mir, ich solle keinen Brantwein trinken und nicht mit Würfeln spielen, aber ich habe nicht nach meines Vaters Worten gehandelt, so bin ich arm geworden«. »Wie nun?« fragte der[142] Oheim. »Ich weiss es nicht«, versetzte er. »Willst du umkehren und keinen Brantwein mehr trinken?« »Vor Gott gelobe ich Umkehr«, antwortete er, »keinen Brantwein mehr zu trinken und nicht mehr mit Würfeln zu spielen«. »So komm zu mir«, sagte der Oheim und nahm ihn mit sich nach Hause. Dort sagte er ihm: »Nimm dir hundert Beutel und treibe damit Handel«. »Gut!« sagte er, nahm die hundert Beutel, kaufte Maultiere und kaufte Waren, reiste nach Baghdad, trieb dort Handel, verkaufte und kaufte und kehrte wieder nach Hause, nach Diârbekr, zurück. Auf den Piaster hatte er einen Piaster gewannen. Als sein Oheim davon hörte, sagte er: »Ja, so ist's gut, er treibt Handel und hat schon grösseren Reichtum erworben, als sein Vater besass«. Er begab sich nun zu ihm und schlug ihm vor: »Ich will dir eine Braut werben«. »Wie du willst, Oheim«, antwortete er. Da reiste sein Oheim zu den Beduinen, zum Häuptling der Ṭai. Dieser hatte eine unvergleichlich schöne Tochter. Als er sich beim Häuptling niedergelassen hatte, fragte dieser ihn: »Wesswegen bist du hergekommen? Kaufmann!« »Wegen deiner Tochter bin ich gekommen«, erwiderte er. »Für wen denn?« »Für den Sohn meines Bruders«. »Schön!« sagte der Häuptling, »geh und hole mir drei Maultiere und belade sie mit Goldstücken, bring sie her und nimm das Mädchen mit«. Der Oheim stand auf, ging nach Hause und belud drei Maultiere mit Goldstücken. Darauf kehrte er zum Häuptling zurück, gab ihm die drei Maultiere und das Gold; dafür nahm er dessen Tochter mit, kam mit ihr nach Hause und verheiratete sie mit seinem Neffen. Der wich nicht mehr von ihr, vom Morgen bis dass der Tag sich neigt, Nacht und Tag liegt er bei ihr. So ging's drei Jahre lang, ohne dass er von ihr wich. Da sagte sie ihm: »Geh hin, treibe Handel; wenn du nach Hause zurückkommst, bin ich ja wieder deine Frau«. Er aber erwiderte: »Ich kann mich nicht von dir trennen«. »Wenn du nicht gehst« versetzte sie, »und Handel treibst, so bleibe ich nicht mehr bei dir«. »So will ich gehen«, seufzte er. »Zeichne dir mein Bild und nimm es mit«, riet sie ihm, »so oft ich dir in den Sinn komme, nimm das Bild heraus und küsse es«. Da zeichnete er ihr Bild auf ein Blatt Papier und steckte es in seine Tasche. Unterdessen war auch der Oheim gestorben, und in Folge davon war das ganze Vermögen an ihn gekommen. Nun packte er seine Warenballen und begab sich mit sechs Dienern auf die Reise nach Baghdad. Unterwegs in Dscheſîre traf er einen andern Kaufmann, aus Baghdad, welcher nach Diârbekr reiste, wärend Dälli – so[143] hiess der junge Mann – auf dem Wege nach Baghdad war. Sie setzten sich zu einander und schwatzten mit einander. Nun hatte der Kaufmann aus Baghdad einen Diener von den Elfen, Namens Ssillo. Diesen hatte er als kleines Kind gefunden und auferzogen und liess ihn nun mit sich herumreisen. –. Dälli nahm das Bild heraus und küsste es; da sagte der Kaufmann aus Baghdad: »Diese Frau ist meine Geliebte«. »Du hast genug gesagt«, versetzte Dälli. Ssillo aber sagte heimlich zum Kaufmanne: »Sage: meine Geliebte ist die Tochter des Beduinenhäuptlings, man hat sie heimgeführt, und ich weiss nicht, wo sie sich jetzt befindet«. So sprach der Elfe zum Kaufmann. »Glaubst du nicht, dass sie meine Geliebte ist?« fragte dieser den Dälli. »Nein«. »Nun, meine Geliebte ist die Tochter des Beduinenhäuptlings, man hat sie heimgeführt, und jetzt weiss ich nicht, wohin man sie gebracht hat«. Dälli dachte: »Bei meinem Heil, es ist wirklich so«; dann sagte er zu dem Kaufmanne: »Wenn du mir ein Zeichen von ihr brächtest, so könnte ich glauben, dass sie wirklich deine Geliebte ist«. »Was für ein Zeichen denn?« fragte der Kaufmann. »Bring mir ihr Kopftuch«. »Ich will meinen Diener schicken und ihn es holen lassen«. »Schicke ihn«. »Und wir bleiben hier«, fuhr der Kaufmann fort, »bis der Diener nach Diârbekr gegangen und zurückgekehrt ist«. »Gut!« »Und wenn er das Kopftuch von ihr bringt, so nehme ich deine Maultiere und deine Waren, bringt er es aber nicht, so gebe ich dir meine Maultiere und meine Waren«. So wetteten sie mit einander. Der Kaufmann schickte nun den Ssillo ab, indem er sagte: »Ssillo!« »Ja!« »Ich wünsche, dass du das Kopftuch seiner Frau stehlest«. »Gut!« sagte Ssillo und begab sich nach Diârbekr. Dort fragte er nach dem Hause Dälli's, und man sagte ihm: »Da ist es«. Nach Sonnenuntergang kroch er unter der Thüre durch – er war ja ein Elfe – und trat ein: da lag die Frau und schlief. Er nahm ihr das Kopftuch weg und küsste sie. –. Sie hatte früher Dälli anempfolen, nur ja nicht das Bild zu verlieren. –. Als Ssillo dem Kaufmanne das Kopftuch geholt und es ihm gegeben hatte, rief dieser: »Dälli!« »Ja!« »Kennst du das Kopftuch?« »Ja wol«. »Nun, da ist es, der Diener hat's gebracht«. Dälli schaute es an und sprach bei sich: »Es ist's«, laut aber sagte er: »Das ist nicht das Kopftuch meiner Frau«. »Bah! Wessen denn?« »Der Diener wird es gekauft haben«. Da fragte ihn der Kaufmann: »Was wünschest du, das ich dir ferner von ihr hole?« »Wenn du ihren Nasenring holst, dann verhält sich's wirklich so«. »Ssillo!« rief der Kaufmann.[144] »Ja!« »Ich wünsche, dass du ihren Nasenring holest«. »Schön!« antwortete Ssillo, machte sich auf und kam nach Diârbekr; das Haus kannte er schon; bis zur Nacht wartete er, dann kroch er wieder unter der Thüre durch, nahm ihr den King aus der Nase und küsste sie. Darauf kehrte er zurück und überbrachte ihn dem Kaufmanne. »Dälli!« sagte dieser. »Ja!« »Kennst du den King?« »Ja wol«. »Da ist er«. Dälli sah ihn an und rief: »Warhaftig, mein Lieber, das ist er«. »Auf denn, gib mir die Maultiere«, verlangte der Kaufmann. So nahm er Dälli die Maultiere und die Waren ab, auch das Bild bekam er von ihm. Darauf reiste er weiter nach Diârbekr, wärend Dälli in Dscheſîre blieb. In Diârbekr kehrte jener in der Herberge ein und lud dort seine Waren ab; dann begab er sich mit Ssillo zum Hause Dälli's, und Ssillo klopfte an die Thüre. »Wer ist da?« rief die Sclavin. »Mache auf!« antwortete er. Sie öffnete die Thüre, und die beiden stiegen zu der Hausfrau hinauf. »Wesswegen bist du hergekommen? Kaufmann!« fragte diese. »Ich und Dälli haben mit unsern Frauen getauscht«, antwortete er, »er sagte: gib mir deine Frau, und ich gebe dir die meinige; ich war damit einverstanden«. »Wirklich?« fragte sie. »Da ist Ssillo«. »Wirklich? Ssillo«, fragte sie diesen. »Ja«. »Glaubst du es nicht?« fuhr der Kaufmann fort, »siehe, ich habe das Bild bei mir«. Als sie das Bild anschaute, sagte sie: »Es ist wirklich so«, und glaubte es? Dann rief sie der Sclavin und befal ihr: »Bereite uns Essen und hole uns Brantwein, mir und dem Kaufmanne«. Darauf tranken sie Brantwein und assen. Als es Nacht wurde, legte sich der Kaufmann mit der Frau schlafen und umarmte sie zehnmal. Ssillo aber schlief bei der Sclavin und wohnte ihr auf unnatürliche Weise bei. Da fragte sie ihn: »Wesshalb umarmst du mich auf diese Weise?« »Bah! wie denn anders?« »So, von hier«. »Nein, bei uns ist es auf jene Weise Sitte«. –. Als der Kaufmann am Morgen mit Ssillo in die Herberge zu den Waren gegangen war, fragte die Sclavin die Frau: »Auf welche Weise hat der Kaufmann dir beigewohnt?« »Ganz so, wie's Brauch ist«, erwiderte sie, »recht gut; wie hat dir denn Ssillo beigewohnt?« »Mich hat er von hinten umarmt«, antwortete die Sclavin. Da lachte die Herrin. –. Als Dälli nach Diârbekr gekommen und in sein Haus gegangen war, seine Frau und die Sclavin gesehen hatte, setzte er sich hin und redete kein Wort. Da fragte ihn seine Frau: »Warum hast du so gehandelt? Dälli«. »Wie denn?« »Du und der Kaufmann, ihr habt mit den Frauen getauscht; du hast mich dem Kaufmanne gegeben und[145] hast dir seine Frau genommen«. »Bewahre! du lügst!« rief er »du bist seine Geliebte«. Da schwor sie ihm und sagte: »Ich weiss nichts von ihm«. Er erzälte ihr, wie es sich zugetragen hatte. Nochmals schwor sie ihm, aber Dälli glaubte ihr nicht. Nun kam der Kaufmann in's Haus, und wären Dälli dasass, trank er mit der Frau Brantwein und umarmte sie vor Dälli's Augen. Dieser brach vor Wut zusammen und starb. Da liess der Kaufmann die Frau ein Pferd besteigen, lud Dälli's Hab und Gut auf und machte sich mit der Frau auf den Weg nach Baghdad. Unterwegs lagerte er sich in der Ebene von Qarrösje. Dort ist ein hohes Gebirge, und in einer Höle dieses Gebirges befand sich ein Riese. Dieser kam gerade in die Ebene hinab und erblickte dort den Kaufmann und die Frau. Er nahm sie ihm weg und entführte sie. Der Kaufmann aber und seine Diener gingen mit den Flinten auf ihn los. Da wandte sich der Riese gegen den Kaufmann; aber dieser war beritten und entkam. Nun verfolgte der Riese die Diener; diese verkrochen sich zwischen den Warenballen, aber er tödtete sie alle, sie und die Maultiere. Dann brachte er das Hab und Gut und die Frau hinauf in seine Höle. Dort wohnte er mit ihr und vergnügte sich mit ihr; sie sprach jedoch kein Wort mit ihm. Eines Tages liess er sie und die Reichtümer in der Höle und ging sich in der Welt herumtreiben. Da fand er eine, die ihrem Manne entlaufen war, die Tochter Tätär Agha's, die an Schönheit ihres Gleichen sucht. Er griff sie auf und entführte sie – aber vier Hirten sahen sie bei ihm – ging zur Höle, setzte sie zu der andern und vergnügte sich mit den beiden. Als Tätär Agha erfuhr, dass seine Tochter ihrem Manne im Zorne davongelaufen sei, suchte er mit ihrem Manne nach ihr, aber sie fanden sie nicht. Sie kamen auch zu den Hirten, und diese fragten sie: »Wonach sucht ihr?« »Wir suchen nach der Kleinen«. »Besser, ihr sucht sie nicht«. »Wie so?« »Der Riese hat sie entführt«, versetzten die Hirten. »Wo ist der Riese?« fragten jene. »Auf dem hohen Gebirge dort«. Da ging Tätär Agha und der Mann, stiegen zur Höle hinauf und fanden dort die Beiden; Niemand war bei ihnen. Sie holten sie heraus und entflohen mit ihnen auf einem andern Wege. Als der Riese nach Hause kam und sie nicht mehr fand, suchte er wie besessen nach ihnen und verfolgte sie. Darüber wurde es Nacht. Ein Vogel kam am Riesen vorbeigeflogen und erreichte Tätär Agha. »Flieh!« rief er ihm zu, »und flieh gut!« »Wesshalb?« fragte jener. »Der Riese kommt hinter euch her«. Da machten jene eine Grube in der[146] Erde, krochen hinein und bedeckten sie mit Heu. Als der Riese herankam, trat er auf den Rand der Grube und entdeckte jene nicht. Er erblickte aber den Vogel und fragte ihn: »Woher kommst du?« »Von Sonnenuntergang«, versetzte dieser. »Hast du keine Weiber, keine Männer gesehen?« »Nein«, antwortete der Vogel, »hier ist Niemand vorübergekommen«. Da kehrte der Riese zurück. –. Tätär Agha, die Weiber und der Mann irrten umher in der Nacht und trafen auf Beduinenzelte. Dort fragten sie nach dem Zelte des Häuptlings. Als sie es gefunden, liessen sie sich dort beim Häuptling nieder. Der Häuptling aber hatte seine Tochter wiedererkannt und rief: »Dies ist meine Tochter«. Dann fragte er den Tätär Agha, woher er sie geholt habe. »So und so ist es uns ergangen«, antwortete dieser, »in der Höle habe ich sie gefunden«. »Wie bist du denn in die Höle gekommen?« fragte jener seine Tochter. Da erzälte sie ihrem Vater, wie es sich zugetragen hatte. Darauf bat er sie, bei ihm zu bleiben; so blieb sie bei ihrem Vater. Tätär Agha aber zog mit seiner Tochter weiter, um sie nach Hause zu bringen. Aber der Riese traf ihn und erschlug ihn sammt seinem Schwiegersohne; das Mädchen führte er mit sich weg.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 142-147.
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