[147] Es war einmal ein Statthalter, der hatte drei Söhne, die er sehr liebte, so dass er sie neben sich aufs Sofa zu setzen pflegte. Er hatte einen tapfern Diener, der ging eines Tages in's Gebirge, da sah er eine grosse Schlange auf sich zu kommen, die ihn beissen wollte. Er hatte einen Säbel bei sich; die Schlange fasste dessen Scheide, er aber zog den Säbel aus derselben. Die Schlange liess jedoch die Scheide nicht los, sondern behielt sie im Munde. Nun versetzte der Diener ihr einen Hieb mit dem Säbel, darauf einen zweiten, mit einem dritten endlich tödtete er sie. Die Schlange hatte eine blinde ältere Schwester: diese blinde war noch stärker als jene, die er getödtet hatte, aber sie war blind. Als der Diener nach Hause kam, erzälte er dem Statthalter: »Gott hat mich heute beschützt«. »Wie so?« »Eine Schlange kam gegen mich heran, aber in dem Augenblicke, wo sie mich beissen wollte, tödtete ich sie«. »Du hast recht getan, dass du sie getödtet hast«, erwiderte der Statthalter. –. Die blinde Schlange[147] weinte, als ihre Schwester Dicht nach Hause kam. Sie fragte alle Schlangen nach ihr, aber diese sagten, sie hätten sie nicht gesehen. Da dachte sie, ein Mensch hat sie getödtet, und weinte. Darauf kam ein Vogel. »Wesshalb weinst du, Schlange?« fragte er sie. »Wegen meiner Schwester; ich weiss nicht, wohin sie ist; seit zehn Tagen ist sie nicht nach Hause gekommen«. »Der Diener des Statthalters hat eine getödtet«. »Das wird sie sein«. Darauf fragte sie die Schlangen: »Ist nicht in diesen Tagen eine von euch getödtet worden?« »Nein«. »So haben die Leute des Statthalters meine Schwester getödtet«. Dann wandte sie sich an den Vogel: »Komm zeige mir, wo der Statthalter wohnt; ich schenke dir zwei goldene Ohrringe«. »Schön! gib mir die Ohrringe, und ich komme«. »Da, nimm die Ohrringe«. Damit gab sie sie ihm. »Wem gehören diese Ohrringe?« fragte der Vogel. »Der Tochter des Löwenfürsten; meine Schwester ging auf sie los, biss sie aber nicht, dagegen brachte sie die Ohrringe mit«. »Hm! so komm, lass uns gehen, dass ich dir zeige, wo der Statthalter wohnt«. Als der Vogel mit der blinden Schlange dorthin kam, sagte er: »Hier wohnt der Statthalter«. Die Schlange kroch in die Mauer des Schlosses, und der Vogel kehrte nach Hause zurück. Die Schlange ging durch die Mauern bis in's Zimmer des Statthalters: er sass gerade mit einem Sohne auf dem Sofa. Die Schlange wand sich aufs Sofa hinauf, biss den Sohn und kehrte in die Mauer zurück. Der Junge fing an zu weinen. »Warum weinst du?« fragte man ihn. »Es hat mich etwas gekniffen«, gab er zur Antwort. Wärend die Andern sich sorglos weiter unterhielten, schwoll der Junge auf. Da liess man die Aerzte kommen; als sie ihn besehen hatten, sagten die einen, es komme vom Blute, andere verordneten ihm Blutegel, noch andere liessen ihm Schröpfköpfe setzen. Zwei Stunden vergingen, da war er todt. Sie trugen ihn weg und begruben ihn. –. Die Frau des Statthalters sass auch da: die Schlange kam wieder heraus, biss sie und kehrte an ihren Ort zurück. Die Frau fing an zu schreien. »Wesshalb schreist du?« fragte man sie. »Es hat mich etwas gekniffen«. »Was denn?« »Ich weiss es nicht«. »Hast du es nicht gesehen?« »Nein.« Sie starb auch. So hatte die Schlange die beiden an einem Tage getödtet; nun blieb sie bis zur Nacht in der Mauer. Der Statthalter fragte: »Beim Frieden meines Hauses! wer ist nur der, welcher uns kneift?« »Wir wissen es nicht«, antwortete man ihm, »es ist kein Scorpion, es ist keine Schlange, und es ist keine Pocke, wir wissen es nicht«. –.[148]
Als sie Nachts eingeschlafen waren, kam die Schlange wieder heraus und biss den andern Sohn des Statthalters. Der fing an zu weinen, sie zündeten Licht an, fanden aber nichts, denn sie war wieder in die Mauer an ihren Ort gegangen. Die Aerzte wurden gerufen, sie setzten ihm Blutegel an, aber er genas nicht, sondern starb. –. Wieder kam die Schlange aus der Mauer heraus: da sahen sie sie. Sie warfen mit Steinen nach ihr, aber sie verkroch sich in die Mauer. Der Statthalter sagte zu seinen Untertanen: »Die Schlange hat meine Söhne und meine Frau gebissen«. »Wo ist sie?« fragten sie. »Sie hat sich in die Mauer des Schlosses verkrochen«. »Was sollen wir anfangen?« »Ich werde das Schloss niederreissen«. Er liess es niederreissen; aber die Schlange entfloh nach Hause, und sie fanden sie nicht. »Ich habe die Schlange nicht gefunden«, sagte der Statthalter, »ich habe das Schloss niedergerissen, und sie zeigt sich nicht«. – Er liess ein neues Schloss bauen. –. »Was soll ich nur anfangen?« fragte er. Da riet man ihm, er solle zum Könige der Schlangen gehen, der werde ihm die Schlange zeigen, welche seine Söhne gebissen habe.
Da machte der Statthalter sich auf, bestieg sein Pferd, nahm den Diener mit sich und fragte nach dem Könige der Schlangen. Man zeigte ihm den Ort, wo der König hauste. »Wo ist der König?« fragte er. »Er ist nicht zu Hause«. »Wohin ist er gegangen?« »Er hat sich zum Fürsten der Vögel begeben, im Augenblicke muss er zurückkommen«. Der Statthalter wartete ein wenig, da kam der König. »Was ist dein Begehr? Statthalter«, fragte er ihn. »Ich komme zu dir«. »Wesshalb?« »Eine Schlange hat meine beiden Söhne und meine Frau gebissen«. »Kennst du sie?« »Nein, aber ich weiss, dass eine Schlange sie gebissen hat«. Da rief der König den Schlangen, alle kamen heran, und keine blieb an ihrem Orte. »Wer hat die Söhne und die Frau des Statthalters gebissen?« fragte er sie. »Wir wissen nichts davon«. »Sind sonst keine Schlangen mehr da?« »Es ist noch ein alter Schlangenmann da«. Sie riefen diesen und holten ihn herbei. »Hast du Jemand gebissen?« fragte ihn der König. »Es ist ungefähr zehn Jahre her«, antwortete er. Da wandte sich der König zum Statthalter: »Niemand ist da, der deine Söhne gebissen hat; aber geh, frage den König der blinden Schlangen«. Hierauf ging der Statthalter den König der blinden Schlangen fragen, der rief die blinden Schlangen zusammen und fragte sie: »Wer hat die Söhne des Statthalters gebissen?« Jene antwortete: »Ich«. »Wesshalb hast du sie gebissen?« fragte der König weiter. »Sie haben meine[149] Schwester getödtet«. »Wesshalb habt ihr ihre Schwester getödtet?« fragte der König den Statthalter. »Ich habe sie nicht getödtet, sondern der Diener«. »Wesshalb hast du sie getödtet, Diener?« »Sie hatte meinen Säbel gepackt, da tödtete ich sie«. Augenblicklich stürzte sich die blinde Schlange auf den Diener und biss ihn. Der König wehrte ihr, da zog sie sich grollend zurück. Nun sagte der König zum Statthalter: »Geh, hole Soldaten und komm sie tödten, ich will dir ihre Wohnung zeigen«. Der Statthalter ging in seine Stadt, nahm Soldaten, ging wieder zum Könige der blinden Schlangen zurück und bat ihn, ihm die Wohnung jener Schlange zu zeigen. Der König tat das, die Schlange kam heraus und begann mit den Soldaten zu kämpfen. Sie versetzten ihr Säbelhiebe, aber sie ward nicht davon getödtet. Je mehr Hiebe sie trafen, um so dicker ward sie. Sie vermochten nichts gegen sie; sie aber biss viele der Soldaten, bis der Statthalter endlich entfloh. In der Stadt erzälte er, wie es ihnen ergangen sei, und fragte dann: »Was sollen wir nur gegen diese Schlange machen?«.
Nun war ein Derwisch in die Stadt gekommen, der erkundigte sich, was es gebe und wovon die Rede sei. Als sie ihm nun erzälten, was sich zugetragen hatte, sagte er: »Wenn ich sie tödte, was gebt ihr mir?« Der Statthalter antwortete: »Meine Tochter ist verheiratet; ich will sie von ihrem Manne scheiden und dir geben«. »Schön!« sagte der Derwisch. »Wie willst du sie tödten?« fragten ihn die Leute. »Ich habe Schlangenwasser getrunken, daher kann sie mich nicht beissen; ich werde sie nicht schlagen, sondern erwürgen«. Nun zeigten sie dem Derwisch die Schlange, und er fing an mit ihr in der Schlangensprache zu reden. Dann griffen sie einander an; sie wollte ihn beissen, aber er konnte nicht gebissen werden; er packte sie an der Kehle und erwürgte sie; dann zerschnitt er sie mit einem scharfen Messer in kleine Stücke und legte diese auf's Feuer. Aber das Feuer erlosch und ward zu Kola gemacht durch das Gift. »Schaut«, sagte er, »was sie mit dem Feuer angefangen hat, mit ihrem Gift hat sie es ausgelöscht«. »Wirklich?« »Ihr seht es doch wol«.
Nun gab ihm der Statthalter seine Tochter, er nahm sie und steckte sie in seinen Reisesack und ging auf die Wallfahrt. Als er mit den Pilgern zurückkam, um nach Hause zu gehen, lagerten sie eines Abends auf einer Wiese und schliefen dort. Am Morgen früh luden die Pilger auf, der Derwisch schlief weiter, und Niemand weckte ihn. Als er erwachte, sah er die Pilger nicht mehr.[150] Allein zog er weiter, verfehlte aber den Weg und gelangte in das Land der Löwen. Er begab sich zum Fürsten der Löwen und liess sich dort nieder. »Woher kommst du?« fragte man ihn. »Von der Wallfahrt«. »Unsere Tochter ist verrückt geworden«. »Wesshalb?« »Es kam eine Schlange, um sie zu beissen, aber sie biss sie nicht, sondern nahm ihre Ohrringe mit, und wegen der Ohrringe ist sie verrückt geworden«. »Kennt ihr die Schlange?« »Nein«. »Komm«, sagte er zum Fürsten, »lass uns in's Schlangengebirge gehen, ich rufe die Schlangen in ihrer Sprache; diejenige, welche die Ohrringe hat, wird schon sagen: hier sind sie«. »Komm«. »Aber was gibst du mir, wenn ich die Ohrringe hole«. »Dann gebe ich dir meine Tochter«. »Schön!« Nun gingen sie in's Schlangengebirge; der Derwisch rief den Schlangen, den blinden und den sehenden, und sie versammelten sich alle bei ihm und fragten ihn: »Was ist dein Begehr? Derwisch«. »Wer hat die Ohrringe des Fürsten der Löwen geholt?« »Wir haben sie nicht gesehen«, antworteten sie, eine aber sagte: »Die Schlange, welche du getödtet hast, hatte sie geholt«. »Wem hat sie sie gegeben?« fragte er weiter. »Sie hat sie dem Vogel gegeben, dafür dass er ihr zeigte, wo der Statthalter wohnte«. »So sind sie also beim Vogel?« »Ja«. Darauf befal er, dass eine jede wieder an ihren Ort gehen solle. Sie taten das; er rief den Vögeln in der Vogelsprache und fragte sie: »Wer hat Ohrringe von einer Schlange bekommen?« Einer antwortete: »Ich«. »Wo sind sie?« fragte der Derwisch weiter. »Meine Frau trägt sie im Ohre«. »So geh und hole dieselben«. Der Vögel ging und holte sie dem Derwisch; dann kehrte letzterer mit dem Löwenfürsten nach dessen Hause zurück. Als sie dem Mädchen die Ohrringe brachten, genas sie. –. Der Fürst sagte: »Nimm dir meine Tochter mit, Derwisch«, und dieser steckte sie in seinen Reisesack und ging in's Schlangengebirge. Dort fing er zwei Schlangen. »Wozu sind diese Schlangen?« fragten die Mädchen. »Wenn einer euch angreift«, antwortete er, »so sollen diese beiden Schlangen ihn beissen; wenn einer mit euch anbinden will, so befehlt ihnen nur zu kommen und ihn zu beissen; ich habe mit ihnen darüber gesprochen«. »Gut«, sagten die Mädchen.
Der Derwisch begab sich mit ihnen in seine Heimat. Die Derwische hatten ein Oberhaupt, Namens 'Aiſar. Als nun der Derwisch die beiden Mädchen aus seinem Reisesacke herausgehen liess, und 'Aiſar sie sah, fragte er: »Woher hat der Derwisch diese schönen Frauen?« »Wir wissen es nicht«, sagten die andern.[151] Nun gedachte 'Aiſar, sie ihm wegzunehmen; zuerst forderte er sie von ihm; als er sie aber nicht geben wollte, nahm er sie ihm mit Gewalt ab und zwang sie zu seinen Lüsten. Da rief der Derwisch die, Schlangen, die kamen zu ihm und fragten nach seinem Begehr. »Wer von euch hat kein Wasser getrunken?« fragte er sie. Eine kam und sagte: »Ich habe kein Wasser getrunken seit langer Zeit«. »Wie viele Jahre ungefähr ist es her?« »Etwa zwanzig Jahre«. »So geh und beiss den 'Aiſar«. Sie ging, biss ihn, und 'Aiſar starb. Der Derwisch wollte seine beiden Frauen nehmen, aber die übrigen Derwische wollten sie ihm nicht geben. »Dann lasse ich die Schlangen gegen euch los«, erwiderte er. »Die Schlangen werden doch wol nicht deinem Befehle gehorchen?« »Gewiss«. »So rufe sie, damit wir es sehen«. Er rief sie, sie versammelten sich und fragten nach seinem Begehr. »Habt ihr nun gesehen?« sagte er zu den Derwischen. »Bei Gott, es ist wahr«, erwiderten sie. Dann erzälte er ihnen: »Ich habe sieden 'Aiſar beissen lassen«. Da baten sie: »So werde du nun unser Oberhaupt«. So ward er ihr Oberhaupt. Den Schlangen befal er, sich zu zerstreuen, die beiden dem 'Aiſar wieder abgenommenen Mädchen heiratete er. Jede von ihnen gebar einen Sohn. Der Sohn der Tochter des Löwenfürsten war zur Hälfte ein Löwe und zur Hälfte ein Mensch. Jener Derwisch aber herrschte weiter über die Derwische.
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