XXXIX.

[152] Es war einmal ein Fürst, der hatte zwei Söhne; auch hatte er hundert Gänse, welche Eier legten. Die Gänse hatten ein besonderes Gelass für sich. Ein Riese kam jede Nacht und nahm eine derselben weg; jeden Morgen, wenn man die Gänse zälte, waren sie um eine weniger geworden. Endlich unterrichteten die Söhne des Fürsten ihren Vater davon. »Vater!« sagten sie. »Was gibt's?« »Der Gänse sind weniger geworden«. »Wieso?« »Jede Nacht verschwindet eine, und wir wissen nicht, wer sie holt«. Da rief der Fürst die Bürger der Stadt und fragte sie: »Was für Diebe gibt's in der Stadt?« Sie zeigten ihm drei, indem sie sagten: »Diese sind Diebe; das sind die Spitzbuben, welche in der Stadt sind«. Der Fürst liess die drei verhaften, legte ihnen Ketten an den Hals und setzte sie in's Gefängniss. Nachts kam der Riese[152] und holte wieder eine Gans weg. Als die Söhne die Gänse am Morgen zälten, fehlte wieder eine; sie benachrichtigten ihren Vater, indem sie sprachen: »Es ist wieder eine weg«. »Wirklich?« »Ja«. »So haben nicht die Diebe sie gestolen; die habe ich in's Gefängniss gesetzt; sie wissen nichts davon«. Darauf entliess er sie aus dem Gefängnisse. Wie auch immer er sich erkundigte, er konnte nicht in Erfahrung bringen, wer der Dieb sei. Da sagte er: »Ich will diese Nacht vor dem Gänsestall schlafen, damit ich sehe, wer der Dieb ist«. Bis um Mitternacht blieb der Fürst wachend sitzen, dann aber schlief er ein. Der Riese kam, holte eine Gans, der Fürst merkte nichts davon. Am Morgen stand er auf und zälte die Gänse, sie waren wieder um eine weniger geworden. »Wer mag nur derjenige sein, welcher sie holt?« dachte er, »gestern habe ich mich vor den Gänsestall gelegt, habe Niemand kommen sehen, und es fehlt doch wieder eine«. Nun sagte der Bruder des Fürsten: »Ich will mich dorthinlegen«. Aber auch dieser schlief ein, und es verschwand wieder eine Gans. Darauf schlief der ältere Sohn des Fürsten vor dem Stalle, aber auch er erwachte nicht, als der Riese kam und eine stal. Endlich erbot sich der jüngere Sohn, die Nacht dort zuzubringen. Er legte sich hin und rauchte seine Pfeife; dann ritzte er sich mit einem Messer die Hand auf und tat Salz in die Wunde, damit ihn kein Schlaf ankäme; die Flinte hielt er in der Hand. Der Riese kam und packte eine Gans; der Junge sah ihn, legte auf ihn an und traf ihn am Kopfe. Da liess der Riese die Gans los und entfloh. Als der Fürst am Morgen die Gänse zälte, sagte er: »Heute sind die Gänse vollzälig«. »Vater!« sagte der Junge. »Ja!« »Ich habe etwas gesehen, es war kein Mensch und auch kein Tier; wie ein Ungeheuer sah es aus, es kam und fasste eine Gans, ich legte das Gewehr auf es an und schoss, da floh es, ich weiss nicht, ob ich es getroffen habe oder nicht«. »Wohin ist es gegangen?« fragte der Vater. »Zum Tore hinaus«. »Du hättest uns rufen sollen«. »Ich konnte meine Zunge vor Schrecken nicht bewegen«. Darauf erklärte der Sohn des Fürsten, er wolle es aufsuchen gehen; sein Bruder und sein Oheim begleiteten ihn. Sie fanden die Blutspur, verfolgten dieselbe und kamen zu einer Höle. Da war eine ganze Blutlache: dort hatte der Riese geschlafen, er war aber von da wieder aufgebrochen. Sie verfolgten die Spur weiter bis zum Rand einer Cisterne. »Er ist in der Cisterne«, dachten sie, »er ist von der Höle aufgebrochen und zu der Cisterne gegangen«. Der Sohn des Fürsten ging nun nach Hause[153] zurück und holte Stricke. Als er damit zur Cisterne zurückkam, bat der Oheim, sie möchten ihn hinunterlassen. Sie liessen ihn bis zur Hälfte der Cisterne hinunter, da rief er: »Ich ersticke vor dem Gerüche, zieht mich hinauf«. Da zogen sie ihn wieder herauf. Darauf liessen sie den altern Bruder bis zur Hälfte hinunter, da rief er: »Ich sterbe vor dem Gerüche, zieht mich hinauf«. Sie zogen ihn wieder herauf. Nun sagte der jüngere Bruder: »Lasst mich hinunter; aber zieht mich nicht wieder in die Höhe, so viel ich auch immer rufen mag: ich ersticke, zieht mich hinauf«. Sie banden ihn an die Stricke und liessen ihn hinab, er schwieg und dann hiess er sie, ihn ganz hinunter zu lassen. Auf dem Boden der Cisterne angekommen, löste er die Stricke von seinem Leibe. Von der Cisterne aus gingen nach verschiedener Richtung drei Hölen. Er trat in eine; da schlief ein Riese. Ein Mädchen war bei ihm, wie eine Perle, wunderschön. »Wie kommst du hierher?« fragte sie ihn. »Wieso?« »Wenn der Riese dich bemerkt, so frisst er dich«. »Was soll ich denn machen?« »Nimm das Schwert«, sagte sie. Er tat das. »Schlage ihn auf den Fuss, dann wirst du ihn tödten; schlägst du ihn aber auf den Nacken, so tödtest du ihn nicht«. Er erhob das Schwert, traf seinen Fuss und hieb ihn ab. Der Riese starb. Der Prinz brachte das Mädchen und die in der Höle befindlichen Schätze hinaus, band sie an die Stricke und rief: »Zieht auf«. Jene zogen das Mädchen und die Schätze in die Höhe, und als sie sie aus der Cisterne hinausgebracht hatten, sagte der Oheim: »die ist für mich«.

Der Prinz trat in die zweite Höle, da erblickte er ein Mädchen noch schöner als jenes; auf ihrem Schosse schlief ein Riese. »Wie kommst du hierher?« fragte sie ihn. »Ich bin in die Cisterne hinab gestiegen«. »Wenn der Riese dich bemerkt, so macht er dich zu Schnupftabak«. »Wie soll ich's denn anfangen?« »Ich will's dir sagen: da hängt sein Schwert, hole es«. Er holte es. »Stich es ihm in den Bauch und schlitze ihm denselben auf, dann tödtest du ihn; wenn du aber einen Schlag gegen seinen Nacken führst, so tödtest du ihn nicht«. Er bohrte ihm das Schwert in den Bauch und riss ihm denselben auf, da schrie er: Uh! und starb. Der Jüngling fiel zu Boden und es dauerte drei Stunden, bis er wieder zur Besinnung kam, wärend welcher Zeit das Mädchen ihm die Herzgrube rieb. Dann brachte er das Mädchen und die Schätze aus der Höle hinaus, band sie an die Stricke und rief: »Zieht auf!« Sie zogen, und als sie das Mädchen und die Schätze aus der Cisterne hinaufgebracht hatten,[154] sagte der ältere Bruder: »die ist für mich«. –. Der jüngere trat in die letzte Höle, da fand er ein Mädchen, das war noch schöner als jene beiden. In seinem Herzen sprach er: »diese ist für mich«. Das Mädchen spielte mit einer Henne von Gold nebst Küchlein von Silber, welche Perlen aufpickten; es hatte ein Kleid, das war mit keiner Schere geschnitten und mit keiner Nadel genäht; endlich hatte sie einen goldenen Pantoffel, der die Erde nicht berührte, wenn sie ging. Bei ihr war der verwundete Riese. »Wie kommst du hierher?« fragte sie ihn. »Siehe, ich bin hier«. »Da liegt der Riese verwundet«. Er erhob das Schwert, hieb nach seinem Kopfe und spaltete ihm den Schädel; der Riese wollte aufstehen, aber jener versetzte ihm einen zweiten Hieb, mit welchem er ihm das Haupt vom Rumpfe trennte. Dann wandte er sich zu dem Mädchen: »Komm, lass uns gehen«. Sie kamen in die Cisterne. »Komm, steige hinauf«, sagte er ihr. »Steige du hinauf«, entgegnete sie. »Nein, du«. »Du wirst es bereuen; wenn ich hinaufsteige, so nehmen mich deine Brüder weg und lassen dich in der Cisterne; steigst du aber zuerst hinauf, so lassest du mich nicht hier, sondern ziehst mich hinauf«. »Nein«, antwortete er, »fürchte nicht, dass meine Brüder so schlecht handeln könnten«. »Gut! nach deinem Belieben; aber nimm dir diese drei Siegelringe; wenn du diesen drehst, so erscheint die Henne, und wenn du diesen drehst, so erscheint das Gewand, und wenn du diesen drehst, so erscheint der Pantoffel«. »Schön!« sagte er und steckte sie in die Tasche. »Nimm dir auch noch diesen Vogel«, fuhr sie fort, indem sie einen Vogel herausnahm, »wenn deine Brüder dich in die Höhe gezogen haben, so werden sie den Strick durchschneiden und dich fallen lassen; du wirst in die Cisterne fallen, und durch sie hindurch bis zum untern Erdschlund auf den Boden der Welt; der Vogel wird mit dir gehen; im Erdschlund sind drei Rosse, einem jeden ziehe ein Haar aus dem Schweife und stecke sie in deine Tasche; dann wirst du nicht wissen, wie du wieder auf die Oberfläche der Welt kommst, aber bitte nur den Vogel, er möge dich an die Erdoberfläche bringen, und er wird es tun«. Nachdem sie ihn so unterwiesen hatte, rief er: »Zieht auf!« Sie zogen das schöne Fräulein in die Höhe und brachten es aus der Cisterne hinaus. Sie schauten sie an; sie war noch schöner als die beiden andern, und jeder von ihnen sagte: »die ist für mich«. Darauf überlegten sie, sie wollten den Bruder bis an den Rand der Cisterne hinaufziehen, dann die Stricke durchhauen und ihn fallen lassen und das schöne Mädchen mitnehmen; zu Hause wollten[155] sie dann sagen, er sei im Kampfe erschlagen worden. Nun rief der Bruder: »Zieht mich in die Höhe!« Sie zogen ihn bis zur Hälfte der Cisterne, hieben die Stricke mit ihren Säbeln durch, und er fiel hinab in die Cisterne, kam in den Erdschlund hinein und gelangte bis auf den Boden der Welt. Zehn Tage blieb er dort liegen, ehe er wieder zum Bewustsein kam. Als er erwachte, erblickte er die drei Pferde: er zog einem jeden ein Haar aus dem Schweife und steckte es in seine Tasche. Nun wusste er nicht, wie er wieder auf die Oberfläche der Welt gelangen sollte, da sah er den Vogel neben sich und forderte ihn auf, ihn an die Erdoberfläche hinauszubringen. Der Vogel brachte ihn hinaus vor den Rand der Cisterne. Darauf befal er dem Vogel an seinen Ort zurück zu kehren, und dieser kehrte zurück. Er aber begab sich in die Stadt seines Vaters und kaufte sich die Blase eines Zickleins; diese tat er auf seinen Kopf, so dass er wie ein Kalkopf aussah, damit ihn Niemand kenne.

Der Fürst hatte seinen Bruder und seinen älteren Sohn gefragt: »Wo ist euer Bruder?« »Sie haben ihn erschlagen«, gaben sie zur Antwort. Dann fragte der Fürst weiter: »Welche ist seine Frau?« »Diese, die schöne«. »So soll mein ältester Sohn seine eigene Frau und die seines Bruders bekommen, alle beide sollen ihm gehören; jenen haben sie erschlagen«. –. Sie bereiteten dem Bruder des Fürsten das Hochzeitsfest. Er sass auf und ritt mit den Rittern aus zum Turnier. Der Kalkopf nahm ein Haar aus seiner Tasche, da erschien ein schwarzes Luftpferd; er zog ein schönes Gewand an und mischte sich unter die Reiter. Sie schauten ihn an und fragten sich: »Woher ist dieser Kalkopf? er hat ein schönes Ross«. Andere erwiderten: »Er ist ein Fremder«. Der Kalkopf ging hin, sein Pferd zu vertauschen; er nahm ein anderes Haar heraus, da erschien ein Schimmel. Er mischte sich wieder unter die Reiter. Diese sagten: »Eben hatte der Kalkopf ein schwarzes Pferd, jetzt ist es weiss geworden«. Andere sagten: »Was geht es euch an? er ist ein Fremder«. Wieder ging er sein Pferd vertauschen; diesmal war's ein braunes. Er mischte sich wieder unter die Reiter und nahm seinem Oheim die Mütze weg. Sie verfolgten ihn, konnten ihn aber nicht erreichen. Er stieg nun vom Pferde und steckte die drei Haare wieder in seine Tasche. Jene suchten ihn, fanden ihn aber nicht. Hierauf wurde die Heirat des Bruders des Fürsten vollzogen. Dann veranstalteten sie auch das Hochzeitsfest des Sohnes des Fürsten. Als der Molla sich anschickte, ihm die beiden Mädchen anzutrauen, weigerte sich die Geliebte des Vermissten;[156] sie wusste ja, dass er gekommen, denn sie hatte die Pferde unter ihm gesehen. Inzwischen hatte ihr Geliebter bei einem Goldarbeiter Dienst genommen, den Monat für einen Piaster. –. Der Molla begab sich zum Fürsten und sagte: »Das Fräulein gibt nicht zu, dass ich sie mit deinem Sohne verheirate«. Der Fürst ging zu ihr und fragte sie, wesshalb? »Ich wünsche«, antwortete sie, »dass du mir eine Henne von Gold und Küchlein von Silber, welche Perlen aufpicken, gebest«. Der Fürst begab sich zum Goldschmied und befal ihm solches anzufertigen. »Das kann ich nicht machen«, entgegnete dieser. »Mache es, oder ich schlage dir den Kopf ab«. Da fing der Goldschmied an zu weinen, der Kalkopf aber sagte: »Weine nicht, ich will es machen«. »Geh zum Teufel, verfluchter Kalkopf!« Aber der Kalkopf drehte den Ring, und die Henne und die Küchlein erschienen. Der Goldschmied brachte sie zum Fürsten, und dieser gab sie dem Fräulein. Nun sagte diese: »Bringt mir ein Gewand, das mit keiner Schere geschnitten und mit keiner Nadel genäht ist«. Der Kalkopf ging und verdang sich beim Schneider. Der Fürst forderte vom Schneider ein Gewand, wie sie es angegeben hatte. Der Kalkopf drehte den Ring, das Gewand erschien, der Schneider brachte es zum Fürsten, und der gab es dem Fräulein. Diese verlangte darauf einen Pantoffel von Gold, mit dem man die Erde nicht berühre. Der Fürst sprach mit den Pantoffelmachern davon, aber diese erklärten, sie könnten es nicht machen. Da sagte der Kalkopf: »Ich kann's machen«. »So mache es«, erwiderte der Fürst. »Bei euch im Hause will ich's machen«. Er begab sich nun zum Fürsten in's Schloss, drehte den Ring und der Pantoffel war da. Als sie ihn ihr gaben, sagte sie: »Ich nehme Niemand zum Manne, ausser jenem, welcher diesen Pantoffel gemacht hat«. Man antwortete ihr: »Derjenige, welcher den Pantoffel gemacht hat, ist der Kalkopf«. Da sprach sie zum Fürsten: »Bei Gott, er ist dein Sohn«. »Mein Sohn?« »Ja«. Darauf rief sie dem Kalkopf: »Komm herauf und erzäle uns deine Geschichte«. Der Kalkopf kam und erzälte ihnen alles, wie es sich zugetragen hatte, und schloss seine Erzälung mit den Worten: »und die Pferde sind hier bei mir«. Da küsste ihn der Fürst und verheiratete die Prinzessin mit ihm; er aber sagte: »Meine Brüder haben verräterisch an mir gehandelt«.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 152-157.
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