XLII.

[170] Es war einmal ein Räuber und Spitzbube, der hatte eine Schwester, die verheiratete er, und sie bekam einen Sohn, den nannten sie 'Âjiſ. Sein Oheim pflegte Nachts stehlen zu gehen; als 'Âjiſ aber herangewachsen war, da ward er ein noch vorzüglicherer Dieb als sein Oheim. Einst ging er mit seinem Oheim in's Holz, da erblickten sie auf einem Baume ein Vogelnest. »'Âjiſ, klettere hinauf«, sagte der Oheim. »Das kann ich nicht«, erwiderte dieser. Da kletterte der Oheim hinauf. Er hatte aber Hosen an, und die stal ihm jetzt 'Âjiſ vom Leibe, ohne dass er es merkte. Er brachte das Nest hinunter, zwei Eier waren darin, jeder von ihnen ass eines derselben, und dann gingen sie nach Hause. »Oheim, wo ist deine Hose?« fragte 'Âjiſ. »Ich weiss es nicht«. »Siehst du? Ich habe sie dir gestolen, ohne dass du es merktest«. »So bist du ein noch vorzüglicherer Dieb als ich geworden, 'Âjiſ«. –. Eines Tages forderte der Oheim 'Âjiſ auf mit ihm den Schatz des Statthalters stehlen zu gehen. Der Statthalter hatte vor dem Schatze eine Grube voll Pech und Harz angelegt und Erde darüber streuen lassen, damit jeder, der etwa stehlen würde, in das Pech und Harz einsinke und nicht mehr herauskomme, so dass man ihn fassen könne. Als die beiden nun zum Schatzhause kamen, sahen sie die Goldstücke, und der Oheim sagte: »'Âjiſ, geh hin und fülle den Ranzen«. Der aber antwortete: »Ich kann das nicht, Oheim, geh du lieber«, denn er hatte gemerkt, dass da Pech und Harz war. Nun ging der Oheim und sank ein. »'Âjiſ«, rief er, »komm und zieh mich heraus«. »Warte, Oheim, ich will erst den Schatz nehmen und darauf ziehe ich dich heraus, ich lasse dich nicht im Stiche«. Darauf trat er auf die Schulter des Oheims und sprang in die Schatzkammer, füllte sich den Ranzen, trat wieder auf die Schulter des Oheims und kehrte an seinen früheren Platz zurück. Dann erfasste er einen Arm des Oheims und zog; aber der Arm allein blieb in seiner Hand zurück, vom Körper abgerissen, und der Oheim steckte noch in der Grube. Da fasste er dessen Kopf und zog, aber auch dieser[170] wurde vom Halse abgerissen. Nun nahm er den Arm und den Kopf und den Schatz und ging nach Hause. Dort erzälte er seiner Mutter, was geschehen war, und die fing an zu weinen und sagte: »'Âjiſ, lass den Leichnam deines Oheims nicht dort«. »Nein, ich werde ihn nicht im Stiche lassen«, antwortete er, »habe nur keine Angst«. Die Leute des Statthalters fanden am andern Morgen, dass man den Schatz weggebracht hatte und dass ein Mann ohne Kopf und Arm in der Grube stak. Sie sagten: »Kommt, lasst uns den Leichnam bewachen, er hat Verwandte; wenn sie ihn holen kommen, können wir sie ergreifen«. Die Tochter des Statthalters sagte: »Ich will ihn bewachen, gib mir zehn Diener und ein Zelt«. Ihr Vater erfüllte ihr diese Bitte, sie nahm die Diener mit und schlug das Zelt auf.

Unterdessen ging 'Âjiſ sich eine Laute kaufen, bestieg seinen Esel und kam vor das Zelt; dort schlug er die Laute und sang dazu. Da sagte die Tochter des Statthalters zu ihm: »Komm, singe uns diese Nacht«. »Ich kann nicht hier bleiben«, antwortete er, »ich werde mit euch zu Abend essen und dann gehen«. Sie bat nochmals: »Bleib diese Nacht hier«. »Nein, man könnte meinen Esel stehlen«. »Wenn man deinen Esel stiehlt, so – ich schwöre es dir bei Gott, so gebe ich dir, was du nur immer willst«. »Gut«, sagte er, »gebt mir nur einen Futtersack mit Gerste, damit ich ihn meinem Esel anhänge«. Sie gaben ihm das Verlangte. Als er ihn nun dem Esel anhing, raunte er ihm in die Ohren; »Esel, wenn ich meinen Oheim auf deinen Rücken binde, so bringe ihn nach Hause«. »Ja«, gab der Esel zur Antwort. Nun schlug 'Âjiſ die Laute und sang dazu, bis die Diener des Statthalters einschliefen; weiter sang er, bis die Tochter einschlief. Als sie fest schliefen, stand er auf und holte den Oheim heraus; darauf band er ihn auf den Esel und schickte diesen mit ihm nach Hause. Dann begab er sich unter das Zelt, noch schliefen sie; er näherte sich dem Mädchen, machte sich mit ihr zu schaffen und wagte alles mit ihr, ohne dass sie etwas davon merkte. Darauf hustete er, die Diener erwachten, und auch die Tochter des Statthalters. »Steht auf«, befal sie den Dienern, »und seht zu, ob nicht einer an dem Leichnam gewesen ist«. Als die Diener nachsahen, fanden sie, dass der Leichnam weg war und der Esel verschwunden. Sie kamen zurück und meldeten: »Fräulein, der Leichnam und 'Âjiſ Esel sind verschwunden«. Da fiel 'Âjiſ ein: »Habe ich dir nicht gesagt, sie würden meinen Esel stehlen? wirst du ihn mir bezalen?« »Was du willst, werde ich dir geben«. »So gib mir[171] dich selbst«. Da befal sie den Dienern: »Geht und sagt meinem Vater, sie hätten den Leichnam weggeholt, ohne dass wir etwas von ihnen gemerkt hätten«. Als die Diener gegangen waren, genoss 'Âjiſ ihre Liebe; darauf ging er nach Hause, und auch sie ging nach Hause. Zu Hause fragte 'Âjiſ seine Mutter: »Hat der Esel meinen Oheim gebracht?« »Ja, ich habe ihn begraben«. »Gut!« sagte 'Âjiſ.

'Âjiſ setzte seine Diebereien in der Stadt fort; als er eines Tages beim Statthalter war, sagte dieser: »Wir können nicht in Erfahrung bringen, wer dieser Dieb ist«. »Ich will dir mal etwas sagen«, entgegnete 'Âjiſ. »Sprich!« »Streue Goldstücke auf die Strasse; wer nach ihnen die Hände ausstreckt, der ist der Dieb«. »Bei Gott, das ist wahr«, sagte der Statthalter und tat nach seinem Rate. Nun machte sich 'Âjiſ ein Paar Schuhe mit Solen von Wachs. Wenn er auf dem Markte umherging, so fasste das Wachs die Goldstücke. Auf diese Weise bekam er die Goldstücke alle, ohne dass man erfuhr, wer der Dieb war. »Wir sind betroffen und ratlos«, erklärte der Statthalter (unter dein wir den Statthalter von Damascus zu verstehen haben).

Der Statthalter von Aleppo hörte von dem Diebe in Damascus. Da schrieb er einen Brief an den Statthalter von Damascus, in welchem er ihm sagte: »In deiner Stadt ist ein Dieb, du kannst ihn nicht fassen, du bist kein Statthalter«. »Hm! Gut!« sagte jener und schickte die Ausrufer in Damascus umher und befal ihnen: »Ruft aus in Damascus, der Dieb, wer auch immer er sei, soll sich selber angeben; bei Gott sei's gelobt, ich gebe ihm hundert Beutel und meine Tochter, er möge sich nur selber angeben«. Da sagte 'Âjiſ: »Ich bin es«. »Du bist es?« fragte der Statthalter. »Ja«. »So empfange hundert Beutel und nimm dir meine Tochter«, und darauf verheiratete er seine Tochter mit 'Âjiſ. Dann sagte er: »'Âjiſ!« »Ja!« »Ich wünsche, dass du den Statthalter von Aleppo stehlest und zu mir bringest«. »Schön!« entgegnete 'Âjiſ, »gib mir nur ein Ziegenfell und hundert kleine Schellen«. Der Statthalter holte ihm ein Ziegenfell und hundert Schellchen; 'Âjiſ fädelte diese in die Zotten des Felles ein und zog dasselbe an. Dann nahm er noch eine Keule mit, setzte seine Mütze auf und machte sich auf den Weg nach Aleppo. Dort langte er bei Sonnenuntergang an. Der Statthalter ass zu Nacht und legte sich schlafen. Als es Mitternacht geworden, stieg 'Âjiſ in's Schloss und ging in das Zimmer des Statthalters: der schlief dort allein. Er stiess den Statthalter mit der Keule an, der erwachte und öffnete[172] seine Augen. Da schüttelte 'Âjiſ die Keule und die Schellchen; der Statthalter geriet sehr in Furcht. »Wer bist du?« fragte er. »Ich bin der Todesengel; ich bin gekommen, deine Seele zu holen«. »Gnade! bei deinem Heil!« rief der Statthalter, »hole meine Seele nicht diese Nacht, ich habe Kinder, die will ich morgen noch sehen, auch will ich für einen Sarg sorgen, morgen Nacht komm und hole meine Seele«. »Ja, aber ich will dir etwas sagen, tue nach meinem Worte«. »Wie denn?« »Ich werde dich vor den Thron Gottes bringen, wärend du im Sarge bist; wenn ich dir nun sage: belle wie ein Hund, dann belle!« »Ja«. »Wenn ich dir sage: krähe wie ein Hahn«. »Ja«. »Wenn ich dir sage: mache wie eine Katze«. »Ja«. »Nun, so will ich diese Nacht deine Seele nicht nehmen, aber in der nächsten Nacht, dann hole ich sie«. »So soll es sein«, sagte der Statthalter. Wärend des Tages hielt sich 'Âjiſ im Palaste versteckt. Als die Nacht gekommen, stieg er hinauf zum Statthalter, dieser lag im Sarge. »Was hast du gemacht, Statthalter?« fragte er ihn. »Siehe, ich bin bereit, nimm meine Seele«. Da holte 'Âjiſ einen Strick heraus, band den Sarg auf seinen Rücken und ging nach Damascus. Dort begab er sich gleich in die Rats Versammlung des Statthalters (es war um Mittag), setzte den Sarg im Ratszimmer nieder, wo alle Beamten versammelt sassen, und sprach: »Statthalter im Sarge!« »Ja!« »Belle wie ein Hund«. Da bellte er. »Krähe wie Hahn«, da krähte er wie ein Hahn. »Mache wie die Katzen«, da machte er wie die Katzen. »Wiehere wie ein Esel«, da wieherte er. 'Âjiſ hatte unterdessen seine Kleider gewechselt und sich unter die Versammelten gesetzt. Dann befal er: »Oeffnet den Sarg«. Da öffneten sie den Sarg und fanden den Statthalter darin. Als der Statthalter von Aleppo sich umschaute, sagte er: »Das ist ja Damascus«. Da lachten die Anwesenden über ihn. Als sie ihn aus dem Sarge herausgeholt hatten, sagte der Statthalter von Damascus zu ihm: »Hast du gesehen, Statthalter von Aleppo? Du sagtest, es sei ein Dieb in Damascus und ich könne ihn nicht fangen; eben jener Dieb hat dich hierhergeholt, er sitzt hier unter diesen, steh auf und finde ihn heraus«. »Ich habe gefehlt«, antwortete jener. »Geh jetzt nach Hause, nach Aleppo«. So musste er zu Fusse dorthin zurückkehren. –.

Schämdîn-Agha hatte eine sehr schöne Tochter, die bekam Aussatz im Gesicht, und der Arzt hatte ihr befolen, das Gesicht im Meere zu waschen, dann würde es gesund werden. Sie ging an's Meer, wusch ihr Gesicht und ward gesund. Als sie es ein[173] zweites mal wusch, fiel ein goldner Ring, den sie in der Nase trug, in's Wasser, ein Fisch schnappte ihn, sie stürzte sich auf den Fisch, aber ein Haifisch verschlang sie. Als Schämdîn-Agha und seine Söhne davon hörten, schickte er die Taucher in's Meer hinab, aber sie fanden nichts. Sie fingen Fische, durchsuchten ihren Bauch, aber sie fanden nichts. Ein Fisch sprach: »Tödtet mich nicht, ich will euch etwas sagen«. »Sprich!« antworteten sie. »Ich sah eine am Meere, die wusch ihr Gesicht, da fiel ihr Nasenring in's Wasser, ich nahm ihn weg und sie stürzte sich auf mich, da verschlang sie der Hai«. »Lügen!« »Wollt ihr mir nicht glauben?« erwiderte er und spuckte den King aus seinem Munde. Sie besahen ihn und sagten: »Bei Gott, es ist wahr«. Darauf warfen sie Hamen in's Meer, aber der Hai wurde nicht gefangen. »Sie ist dahin«, dachte der Vater und die Brüder.

'Âjiſ hatte gehört, dass der Sultan gestorben sei und dass man ihn in Kleidern von Silber und Gold in's Grab gelegt habe. Er begab sich zum Grabe des Sultans, um die Kleider zu stehlen. In der Nacht öffnete er das Grab, stieg hinab und zog dem Sultan die Kleider aus, da erblickte er einen Fisch im Grabe; er wollte ihn tödten, indem er dachte, es sei eine Schlange. »Tödte mich nicht«, bat der Fisch, »ich bin die Tochter des Königs der Fische, mein Vater war erkrankt, und man sagte mir, ich möchte einige von den HAren des Sultans holen, dann würde mein Vater genesen«. »Hm!« erwiderte er und gab ihr von den Haren des Sultans, dann fuhr er fort: »Gelobe mir, dass du mich zum Manne nehmen willst«. »Ich gelobe es dir; wir wollen zusammen gehen, meinem Vater die Haare bringen, und dann nehme ich dich zum Manne«. »Wo ist dein Vater?« »Im Meere«. »Ich kann aber nicht schwimmen«. »So setze dich auf mich«. Sie gingen nun aus dem Grabe hinaus, vergruben die Kleider am Meeresufer, er stieg auf den Rücken des Fisches und sie schwammen dahin im Meere. Da kam ein Hai, packte den 'Âjiſ und verschlang ihn. Die Fischprinzessin mochte anfangen, was sie wollte, gegen den Hai vermochte sie nichts. Sie ging zu ihrem Vater, gab ihn! die Haare, und er genas. Darauf sagte sie: »Väterchen!« »Ja«. »Ich habe in dem Grabe einen getroffen, dem habe ich gelobt, ich würde ihn zum Manne nehmen, und er gab mir Haare; ich nahm ihn mit mir in's Meer, da entriss ihn mir der Hai«. »Ist's wahr?« fragte er. »Ja«. Da rief der König alle Haie zusammen, und als sie sich bei ihm versammelt hatten, fragte er: »Wer ist der unter euch, in dessen Bauch sich Jemand befindet?« Der, welcher den 'Âjiſ verschlungen[174] hatte, sagte: »In meinem Bauche ist einer«, und der, welcher das Mädchen verschlungen hatte, sagte: »In meinem Bauche ist eine«. »So geht«, befal der König, »an's Ufer des Meeres und spuckt sie aus, damit sie herauskommen«. Die beiden Haie folgten dem Befehle, und jene kamen aus den Fischbäuchen heraus. 'Âjiſ sah das Mädchen, es war einzig schön. Auch die Fischprinzessin hatte sich in eine sehr schöne Frau verwandelt. »Woher bist du?« fragte 'Âjiſ sie. »Ich bin der Fisch, die Tochter des Fischkönigs, und bin gekommen, dich zum Manne zu nehmen«. Da zog er die Kleider des Sultans an und nahm die beiden mit sich nach Hause. Auch die Tochter des Statthalters war noch seine Frau: so hatte er nun drei Frauen. –. Nachdem er ein Jahr zu Hause gewesen war, sagte die Tochter Schämdîn-Agha's zu ihm: »'Âjiſ, komm, wir wollen zu meines Vaters Haus reisen und dort vier Tage bleiben, und dann kehren wir zurück«. Die Familie Schämdîn-Agha's freute sich bei ihrer Ankunft sehr, dass sie die Tochter wiedersahen. »Wie bist du wieder herausgekommen?« fragten sie. Da erzälte ihnen 'Âjiſ, so und so sei es ihnen ergangen. »Sie sei dir gesegnet«, erwiderten sie, »sie ist dein dir zugefallenes Teil«. Da nahm er sie wieder mit nach Hause. Als man jedoch an ihm die Kleider des Sultans erblickte, wurden Soldaten gegen ihn gesandt, aber sie vermochten nichts gegen ihn. Da gab man ihm hinterlistiger Weise Gift zu trinken, woran er starb.

Nach seinem Tode kehrte die Fischprinzessin nach Hause zurück, auch die Tochter Schämdîn-Agha's begab sich in ihre Heimat, und endlich die Tochter des Statthalters ging zu ihrem Vater.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 170-175.
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