XLIV.

[181] Es war einmal ein Kaufmann aus Märdîn, der ging nach Baghdad Waren holen. Dort blieb er einen Monat, füllte mit seinen Dienern seine Säcke und begab sich auf den Heimweg. Oberhalb der Strasse war ein Dorf, da sagte der Kaufmann: »Lasst die Maultiere ausruhen, dass sie weiden, ich will in das Dorf gehen Essen holen.« Die Diener führten die Maultiere etwas von dem Dorfe auf hier zu, liessen sie ruhen und weiden. Da gewahrten sie plötzlich, dass die Berge erdröhnten, die Erde sich öffnete, die Maultiere in die Erde versanken und diese über ihnen sich wieder schloss, nur blieb eine Oeffnung in der Erde. Die Diener flohen entsetzt. Als der Kaufmann zurückkam, fragte er: »Wo sind die Maultiere?« »Weisst du denn nicht, was uns begegnet ist?« erwiderten die Diener. »Was ist euch denn begegnet?« »Wir liessen die Maultiere hier weiden, da erdröhnten die Berge, die Erde öffnete sich, die Maultiere versanken in die Erde und verschwanden vor unsern Augen, dieser Spalt hier in der Erde ist offen geblieben.« Da fragte der Kaufmann: »Habt ihr ein Seil bei euch?« »Ja!« »So befestigt es an meinen Gürtel, ich will zu[181] den Maultieren hinabsteigen.« Da banden sie das Seil an den Gürtel des Kaufmanns und liessen ihn hinab. Aber das Seil langte nicht. Sie riefen ihm zu: »Das Seil langt nicht,« »So lasst es los«. Da liessen sie das Seil los, er schloss die Augen und fiel hinab in das Land der Gog und Magog [Zwerge]. Wärend die Diener ihm nachschauten, schloss sich der Spalt, welcher in der Erde offen gewesen war. Nun sprachen die Diener zu einander: »Wir sind nicht mit dem Kaufmanne gegangen, wir wissen nicht, wohin er gegangen ist; wenn wir nun gehen, was sollen wir in Märdîn sagen?« Da kamen sie überein, es so zu erzälen, wie es sich zugetragen hatte, und so taten sie auch, als sie nach Märdîn kamen.

Der Kaufmann blieb ein Jahr lang auf dem Boden liegen, bis er aus seiner Betäubung erwachte. Dann schaute er um sich und sah, dass er sich in einer ganz andern Welt befand. Die Leute waren klein, eine Elle, eine halbe Elle oder gar eine Spanne hoch. Er geriet sehr in Erstaunen und rief aus: »O Herr, was ist das für ein Volk?« Die Zwerge besahen ihn und lachten über ihn. Er erblickte einen Alten mit einem Barte (er war so gross), der fragte ihn: »Woher bist du? Mann!« »Ich weiss es nicht.« »Wie? du weisst es nicht?« Da sagte er: »So und so ist es mir ergangen, meine Maultiere sind fort.« »Die sind bei mir, komm, lass uns gehen, ich will sie dir zeigen.« Da ging er mit ihm zu einer Stadt. Der Kaufmann sah sich staunend in der Stadt um: die Waren der Läden waren von ganz anderer Art, es war nicht die Art der Waren, wie sie bei uns ist. Der Mann geriet in Verwunderung über ihr Kaufen und Verkaufen, Weiter ging er mit dem bärtigen Manne und fand die Maultiere wirklich bei ihm. »Da sind deine Maultiere«, sagte jener. »So gib sie mir.« Aber jener erwiderte: »Du kannst doch nicht in dein Land zurückkehren, bleib hier als Diener neun Jahre bei uns.« Er war's zufrieden und blieb bei ihnen. Das Haus war voll von Weibern und Männern, Jungen und Mädchen, einer war darunter, etwa einen Finger gross, der hatte einen Schnurrbart. Der Kaufmann besah ihn und lachte. »Worüber lachst du?« fragten sie ihn. »Ueber diesen lache ich, über Qûlin, er ist sehr lang.« »Hm!« sagten sie. –. Es fanden Feste statt, da nahmen sie den Kaufmann mit, dass er zuschaue. Er sah sein Wunder an ihrem Treiben: die Männer und Weiber vollzogen ihre ehelichen Umarmungen stehend. Der Kaufmann hatte sein Vergnügen daran, er ergriff nun Mädchen und Weiber, um dem Beispiele jener zu folgen, aber da schalten sie ihn aus.[182] Einen König oder Fürsten haben sie nicht; wenn ein hässlicher Kerl mit zerrissenen Kleidern vorhanden ist, so sagen sie: »den wollen wir zu unserm Könige machen.« –. In der Familie des Bärtigen, in welcher der Kaufmann lebte, waren vierzig Söhne und jener Qûlin, mit Qûlin waren es einundvierzig. Jener war nicht verheiratet, die vierzig waren verheiratet; jede Frau hatte eine Wiege. Die Frauen hatten geboren und die Kleinen lagen in den Wiegen und der Alte mit dem Barte schaukelte sie; er war der Grossvater der ganzen Familie. Wenn eines in der Nacht weint, so weckt er dessen Mutter und sagt: »Auf, säuge deinen Kleinen.« Das war eine grosse Familie. – Eines Tages war der Alte zum Pflügen gegangen; Qûlin brachte dem Vater Brot. Wenn Qûlin ging, sah man ihn nicht; die Schüssel aber, die er in der Hand trug, sah man, ihn selbst aber nicht. Als er aufs Feld kam, sagte er: »Vater, nimm das Essen und iss.« Der Vater setzte sich hin, um zu essen, Qûlin legte sich in die Furche schlafen. Als der Vater gegessen hatte und wieder zu pflügen anfing, dachte er: Qûlin ist nach Hause gegangen. Er wusste ja nicht, dass er noch da war. Wie er nun weiter pflügte, wurde Qûlin von der Erde ganz bedeckt. Der Vater rief ihm noch einmal, aber Niemand antwortete, und so pflügte er weiter bis zum Abend. Am Abend wollte er nach Hause gehen, da rief Qûlin: »Väterchen!« »Ja!« »Du willst gehen und mich hier zurücklassen?« »Wo bist du?« »Hier unter der Erde.« Wie der Vater auch suchte, er konnte nicht herausbringen, wo er war; bestürzt ging er endlich nach Hause und liess Qûlin dort. Zu Hause fragten sie ihn: »Wo ist Qûlin?« »Ich habe ihn nicht gefunden«, antwortete er und erzälte ihnen, was sich begeben hatte. Am folgenden Tage gingen sie alle nach ihm suchen, er schrie, aber sie konnten nicht herausbringen, wo er war; so mussten sie wieder gehen und ihn lassen, und er blieb unter der Erde. Nun grub ganz in seiner Nähe eine Maus ein Loch, durch dieses Mauseloch kam Qûlin wieder heraus. Er ging nach Hause und fragte: »Warum habt ihr mich nicht unter der Erde herausgeholt?« »Wir haben ja nach dir gesucht, aber wir konnten dich nicht finden«, antworteten sie. Aber Qûlin fing Streit mit ihnen an und erschlug sie alle, dann brachte er auch noch die Weiber und Kinder um, nur den Kaufmann und den Vater liess er am Leben. – Eines Tages ging Qûlin aufs Dorf, da erblickte er sieben ungesattelte Esel, die stal er, setzte sich auf einen und zälte sie: da waren's nur sechs. Nun stieg er wieder ab, um sie noch[183] einmal zu zälen; da waren's wieder sieben. »Wie verhält sich das?« dachte er, »ich zäle sie, so ergeben sich sieben, ich sitze auf, dann sind's nur sechs.« Er gab's auf, dahinter zu kommen, und ging nach Hause. Dort sah er, dass es sieben Esel waren. Er dachte: die Leute, die ihn mir gestolen hatten, haben Angst bekommen und ihn zurückgebracht. Er erzälte darauf dem Kaufmann von der Sache. »So ist es«, sagte dieser, »du rittest auf einem, da blieben vor dir nur sechs übrig; den, der unter dir war, hattest du nicht mitgezält.« »Bei Gott!« sagte er, »das ist wahr.« Darauf fuhr er fort: »Komm, ich will dich etwas in der Welt umher führen.« Der Kaufmann war's zufrieden und zog mit Qûlin in der Welt umher; er sah sein Wunder am Lande der Zwerge. In einer Stadt fanden sie einen Mann wie den Kaufmann. »Woher bist du?« fragte ihn der Kaufmann. »Ich bin aus Môçul.« »Wie bist du hierher gekommen?« »Ich schlief, da erblickte ich im Traume eine Taube und stürzte mich auf dieselbe; ich schaute auf, da war ich hier, das ist meine Geschichte.« »Was sollen wir nun anfangen?« fragte der Kaufmann. »Ich weiss es nicht.« »So komm, wir wollen in diesem Lande umherziehen.« So gingen die beiden mit Qûlin und er brachte sie zu einer Höle, die war voll von Goldstücken. Qûlin fragte sie: »Gilt diese Münze bei euch?« »Ja!« antworteten sie. »So kommt und nehmt euch davon.« »Wir haben keine Säcke bei uns«, erwiderten sie. »Habe nur keine Angst, Kaufmann; ich fülle dir die Säcke der Maultiere damit und entlasse dich nach Hause.« »Aber ich Mann ja nicht dorthin gehen«, warf dieser ein. »Ich werde dich hinbringen, wenn die neun Jahre abgelaufen sind, von welchen mein Vater dir gesprochen hat.«

Sie kamen weiter zu einer andern Höle, da sahen sie eine wunderschöne Frau, von der Art des Kaufmanns, nicht von der der Zwerge. Der Kaufmann und der Môçulaner setzten sich zu ihr und unterhielten sich mit ihr. »Woher bist du?« fragten sie sie. »Ich bin die Tochter des Bahlûl in Baghdad.« »Wesshalb bist du hierher gekommen?« »Wesshalb seid ihr gekommen?« Da erzälten sie ihr, was ihnen begegnet war, und fuhren fort: »Erzäle uns nun auch, was dir begegnet ist.« »In der Wasserquelle«, sagte sie, »war eine einzig schöne Frau, die wollte ich greifen, aber sie fasste meinen Arm und zog mich unter die Erde, bis ich hierher gelangte, dann liess sie mich in dieser Höle wohnen.« »Wo ist sie?« »Sie ist eben ausgegangen, im Augenblick kommt sie.« Da ging Qûlin sie rufen, sie kam heran, wunderschön war[184] sie, von kleiner Statur, ihre Kleider von Gold. »Wo warst du?« fragte Qûlin sie. »Ich habe die Tochter des Perserschahs geholt.« »Wohin hast du sie gebracht?« »Ich habe ihr eine besondere Höle zum Wohnort angewiesen.« »So komm und zeige sie uns.« »Kommt!« Der Kaufmann war zum Sterben in das Zwergmädchen verliebt. Als sie zu der Höle kamen, fanden sie die Tochter des Schahs, und der Kaufmann und der Moçulaner, bei denen nun auch noch die Tochter des Bahlûl war, fragten sie: »Wie bist du hierher gekommen?« »Ich wollte hinaus in den Garten gehen«, erkälte sie, »verirrte mich aber unterwegs und diese Zwergin nahm mich mit sich fort.« Darauf sagte Qûlin: »Höre mal, Kaufmann, die Tochter des Bahlûl soll für den Moçulaner sein, und die Tochter des Schahs für dich, und das Zwergmädchen für mich.« »Nein, Qûlin«, antwortete er, »das Zwergmädchen soll für mich sein, und die Tochter des Schahs für dich.« »Du kannst ihr ja nicht beikommen.« »Doch wol.« »Nun, dann magst du sie alle beide haben, ich will sie nicht.« Nun machten sie sich alle zusammen auf und begaben sich zu Qûlin's Haus. Der holte die Maultiere des Kaufmannes, belud sie mit Goldstücken und dann sagte er: »Komm, ich will dich nach Hause bringen, dich und den Moçulaner und eure Weiber.« Darauf brachen sie mit Qûlin auf. Dieser sagte: »Schliesse deine Augen, du und der Moçulaner.« Als sie dieser Weisung nachgekommen waren, waren sie auch schon auf die Erdoberfläche hinausgelangt, sie und die Weiber, Qûlin war unten zurückgeblieben. Der Kaufmann zog mit seiner Ladung und den beiden Weibern ab, und der Moçulaner nahm die Chalîfentochter mit sich und ging nach Môçul. Als der Kaufmann nach Märdîn kam, freuten sich die Leute; sie sahen zu ihrer Verwunderung, dass er zwei Frauen bei sich hatte, neugierig betrachteten sie die Zwergin. Nachdem der Kaufmann sich mit ihnen häuslich niedergelassen hatte, liess der Statthalter ihn zu sich kommen und fragte ihn: »Wo warst du diese neun Jahre?« »So und so ist es mir ergangen.« »Du hast eine Frau von ihnen mitgebracht?« »Ja.« »So bringe sie vor uns, damit wir sie uns mal besehen.« »Das ist Sünde, Herr!« »Ich wünsche, dass du sie bringest« Da ging der Kaufmann und sagte ihr: »Komm, der Statthalter und seine Grossen wollen dich sehen.« »Nein, ich komme nicht«, erwiderte sie. »Gewiss!« »Du wirst mich dann verlieren.« »Komm nur, lass dich das nicht kümmern, er kann dich mir nicht wegnehmen.« »Es ist ein Wort; ich habe es dir gesagt; gut, ich komme.« Als sie in das Empfangszimmer[185] trat, schauten sie sie an und wurden nicht satt, ihre Gestalt zu bewundern, sie war sehr schön und von kleiner Statur. Der Statthalter sagte: die ist für mich, und der Richter sagte: die ist für mich, und der Grossrichter sagte: die ist für mich. Sie prügelten den Kaufmann durch und warfen ihn hinaus, traurig ging er nach Hause. Als der Tag vorüber war, sagte der Statthalter zu ihr: »Komm, lass mich bei dir schlafen; morgen Nacht soll dann der Richter bei dir schlafen und die folgende der Grossrichter.« »Gut!« erwiderte sie, »gib mir die Wasserkanne, damit ich beten gehe, und dann soll's so sein.« Sie ging mit dem Wassergefässe hinaus, begab sich aber in das Haus des Kaufmannes, nahm dort die Tochter des Schahs mit sich und verschwand. Die Diener des Statthalters fragten überall nach ihr, aber sie fanden sie nicht, sie begaben sich auch zum Kaufmanne und fragten ihn: »Ist das Zwergmädchen nicht hergekommen?« »Nein!« antwortete er. »Frage mal deine Frau.« Der Kaufmann stieg in's obere Zimmer, aber da fand er die Frau nicht. »Sie sind beide geflohen«, dachte er und fing an zu weinen. Dann begab er sich an die Stelle, wo er aus der Erde hinausgekommen war, dort weinte er und rief nach Qûlin. Da öffnete sich die Erde, Qûlin kam heraus und fragte: »Was wünschest du, Kaufmann?« »Das Zwergmädchen und die Tochter des Schahs sind entflohen.« »Bleib hier,« sagte Qûlin, »ich gehe sie holen.« Darauf ging Qûlin sie suchen, und als er sie gefunden hatte, nahm er sie mit sich und brachte sie hinauf zu dem Kaufmann. Der freute sich. »Warum seid ihr entflohen?« fragte Qûlin. »Er hatte mich dem Statthalter gegeben, dass er bei mir schliefe«, antwortete sie, »da bin ich entflohen.« »Geh, aber gib sie nicht mehr dem Statthalter, lass ihn sie mit Gewalt nehmen, sie wird ihn blind und verrückt machen.« So nahm der Kaufmann sie wieder mit, Qûlin kehrte nach Hause zurück. Als der Statthalter davon hörte, kam er, um sie ihm mit Gewalt zu entreissen, aber sie machte ihn blind und verrückt, Niemand durfte sich ihr nähern ausser dem Kaufmanne ganz allein. Sie wurde dessen Gattin und gebar ihm Söhne von ihrer Art, über die die Leute sich verwunderten. Als der Kaufmann gestorben war, floh sie mit den Söhnen; die Tochter des Schahs liess sie zurück, und diese begab sich wieder nach Persien und erzälte dort ihrem Vater, was sie erlebt hatte. –

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 181-186.
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