XLIX.

[198] In Ghurs lebte die Familie Ḥassan-Agha's, er hatte zwölf Töchter, von welchen die älteste Nûre hiess und von unübertrefflicher Schönheit war. Sie hatten einen Diener Aḥmed; zu dem sprach[198] Nûre: »Ich gelobe feierlich, dass ich keinen andern als dich zum Manne nehmen werde.« Ihre Herzen waren für einander in Liebe entbrannt. Sie erklärte auch ihrem Vater: »Vater, ich werde Aḥmed zum Manne nehmen.« Der aber antwortete: »Nein! Die Vornehmen werden kommen, werde ich dich ihnen nicht geben? und sollte dich dem Aḥmed geben?« Da jagte Ḥassan ihn zum Hause hinaus, Aḥmed aber ging nach Schêcha und verdang sich als Knecht bei Schahîn-Agha, der mit seinem Bruder Ibrahîm-Agha zusammen hauste. Bald darauf teilten diese ihr Hauswesen. Nun hatten sie eine schwarze Sclavin; obgleich jeder von beiden dieselbe für sich beanspruchte, nahm Ibrahîm-Agha sie mit, wärend Aḥmed als Diener bei Schahîn-Agha blieb. Ibrahîm-Agha ging hin, die Sclavin in Diârbekr zu verkaufen, da sagte Schahîn-Agha zu Aḥmed: »Mach dich auf, geh hin und nimm sie ihm; wenn er sie nicht gutwillig gibt, so kämpft mit einander.« Da ging Aḥmed hin und forderte sie von ihm; als er sie ihm aber nicht geben wollte, kämpften sie, und Aḥmed tödtete den Ibrahîm-Agha. Als er mit der Sclavin zu Schahîn-Agha kam, fragte dieser ihn: »Was hast du getan?« »Ich habe Ibrahîm-Agha erschlagen und sie genommen.« »Wesshalb hast du ihn getödtet?« »Du hast es mir ja gesagt.« »Ich war zornig; wie konntest du meinen Bruder tödten!« »Es ist nun einmal so,« »Ich gehe dich in Märdîn bei 'Osmân-Pâscha verklagen,« sagte Schahîn-Agha, ging hin und verklagte ihn. Man holte den Aḥmed, warf ihn in's Gefängniss und legte eine Kette um seinen Hals und ein Fusseisen an seine Füsse. –.

Im Hause Schêch-Mûs-Agha's war ein Sohn, der sagte: »Fürwahr ich will Nûre haben.« Da machte Schêch-Mûs-Agha sich auf und kam nach Ghurs zu Gâro's [des Vaters Ḥassan-Agha's] Haus. Dort nahm er mit seinen Vornehmen Platz, und man setzte ihnen Essen und Kaffe vor. Dann sagte Schêch-Mûs-Agha zu Ḥassan, dem Vater Nûre's: »Wir sind zu dir gekommen.« »Wesshalb?« »Wir sind gekommen, um Nûre zu werben.« »Zu Diensten!« erwiderte Ḥassan, Nûre aber weinte und sagte: »Ich nehme Niemand zum Manne.« Da schlug ihr Vater sie und sagte: »Hört nicht auf sie.« Sie warben um sie und gingen. Aḥmed sass inzwischen gefangen. Er schrieb einen Brief und schickte ihn an Nûre; Nûre schaute hinein, sie verstand zu lesen, sie schaute hinein und weinte. Dann machte sie sich auf und schlug den Weg nach Märdîn ein; einen Diener nahm sie mit sich. Dort begab sie sich zum Statthalter, trat vor ihn und blieb stehen. »Was[199] wünschest du?« fragte er sie. »Ich bitte dich, Aḥmed frei zu lassen.« »Den gebe ich nicht heraus.« »Von Ghurs bin ich gekommen, bin die Tochter Ḥassan-Gâro's, lass ihn frei.« »Du bist die Tochter Ḥassan's?« »Ja!« »So setzt ihn in Freiheit, um ihretwillen«, befal er den Dienern. Diese liessen ihn frei, und Aḥmed gab ihnen ein Geschenk von zwanzig Goldstücken. Dann kauften die beiden sich je ein Pferd, sassen auf und kamen wieder nach Hause, zu Gâro's Familie. Dort blieben sie eine Woche, da sagte sie zu ihrem Vater: »Niemand werde ich zum Manne nehmen, wenn nicht Aḥmed selber«. »Das geht nicht;« antwortete er, »ich habe dich bereits der Familie Schêch-Mûs-Agha's versprochen.« Als Aḥmed hörte, dass sie schon verlobt war, sagte er zu Nûre: »Komm, ich will dich entführen.« »Voran!« antwortete sie, und sie stiegen Nachts zu Pferde und flohen aufs Gebirge. Dort trafen sie den Sohn Schêch-Mûs-Agha's, der war da mit fünf andern auf der Wiese bei den Pferden. Sie gingen zu ihnen, da sie sie nicht kannten, und jene fragten: »Wohin geht ihr?« »Wir ziehen in die weite Welt,« war die Antwort. Da sagte einer von den Genossen zu Mirſ-Meḥamma – so hiess der Sohn Schêch-Mûs-Agha's –: »Mirſ-Meḥamma!« »Ja!« »Diese ist Nûre, sie ist deine Braut, dieser da hat sie entführt.« Da sprang Mirſ-Meḥamma auf, zog seinen Säbel und lief hinter ihnen her. Der Kampf begann: Aḥmed tödtete zwei, aber sie entrissen ihm Nûre, ihn selbst traf ein Lanzenstich, der ihn verwundete, da wandte er sich zur Flucht, und obgleich ihn jene verfolgten, er entkam. Aber Nûre nahm Mirſ-Meḥamma mit sich; als er nach Hause gekommen war, ging er zum Vater in's Zimmer. Dieser fragte ihn: »Wesshalb bist du von den Pferden weggegangen?« »Mein Vater,« antwortete er, »wir sassen da, ich und meine Genossen, da kamen zwei zu uns, eine Frau und ein Mann, zu Pferde, die ich nicht kannte; wir fragten sie: wohin geht ihr? sie antworteten: wir ziehen in die weite Welt; sie kannten uns auch nicht; nun sagte mir mein Genosse: diese ist Nûre, Aḥmed hat sie entführt; da zog ich meinen Säbel und lief hinter ihnen her, ich und meine Genossen; zwei von ihnen tödtete er, aber ich verwundete ihn durch einen Lanzenstich, entriss ihm Nûre und brachte sie hierher.« »Wo ist sie?« fragte jener. »Sie ist hier bei den Frauen.« »Du sollst mein Augapfel sein,« sagte der Vater. Darauf schrieb Schêch-Mûs-Agha einen Brief und schickte ihn an Ḥassan-Gâro, darin sagte er: »Wir wollen kommen, Nûre heim zu holen,« natürlich zum Scherz. Als der Diener mit dem Briefe zum Hause Ḥassan's gekommen[200] war und ihn dem Vater Nûre's überbracht hatte, sah dieser ihn an und las ihn, dann nahm er ihn und steckte ihn in seine Busentasche. Alsbald sass er auf und kam gleich mit dem Diener zu Schêch-Mûs-Agha; dort stieg er vom Pferde, ging zum Zimmer hinauf und begab sich zu ihm. Als sie zusammen sassen, sagte Schêch-Mûs: »Gib uns Nûre, wir wollen kommen, sie heim zu holen.« »Nûre ist verschwunden, Aḥmed hat sie entführt, wir haben nach ihr gesucht, aber sie nicht gefunden, sonst hätten wir sie getödtet.« »Mein Sohn hat sie angehalten, sie und Aḥmed, letztern hat er verwundet und sie selbst hergebracht, Aḥmed aber hat zwei Genossen meines Sohnes getödtet.« Da fragte der Vater: »Wo ist denn Nûre?« »Sie ist hier.« »So ruft sie!« Sie riefen sie; als sie in die Versammlung getreten war, fragte ihr Vater sie: »Warum hast du das getan?« »Darum«, gab sie zur Antwort, »ich liebte ihn, und entführte ihn.« Er befal sie zu schlagen, und sie schlugen sie drei Tage und drei Nächte. Da stellte sie sich besessen, und seitdem galt Nûre für eine Besessene.

Aḥmed aber hatte sich zu Qaratâschdîn begeben; als er zu ihm in's Zimmer trat, fragte ihn dieser: »Wie kommt's, dass du so vor mir erscheinst?« »O Qaratâschdîn, was soll ich dir's sagen?« »Rede, fürchte dich nicht.« »Mich liebte Nûre«, hob er an, »die Tochter Ḥassan's aus dem Hause Gâro, aber der Vater wollte sie mir nicht geben; da freite die Familie Schêch-Mûs-Agha's sie für Mirſ-Meḥamma, ich entführte sie und wollte mit ihr zu dir kommen, aber unterwegs trafen mich Mirſ-Meḥamma und seine Genossen, sie setzten mir nach, zwar tödtete ich zwei, aber ich wurde verwundet, und sie entrissen mir Nûre und schlugen sie drei Tage und drei Nächte; nun bin ich zu dir gekommen, was sagst du?« »So! ja, fürchte dich nur nicht,« antwortete er. Darauf machten sich Qaratâschdîn und seine Brüder Tschâko und 'Arfo nebst Aḥmed auf, bestiegen ihre Pferde und kamen Nachts zu dem Dorfe Schêch-Mûs-Agha's; dort waren sie in einem Hause bekannt, sie gingen in dieses Haus und schickten eine Frau zu Nûre, welche ihr sagen sollte: »Nûre! Aḥmed und Qaratâschdîn und Tschâko und 'Arfo sind bei uns, sie lassen dir sagen, du mögest dorthin kommen.« Als die Frau diese Bestellung ausgerichtet hatte, erwiderte Nûre: »Geh, ich komme schon.« Unterdess war Qaratâschdîn zum Hause Schêch-Mûs-Agha's gegangen, hatte dort ein schönes Pferd gestolen und dasselbe mitgebracht. Als Nûre kam, setzten sie sie auf dieses Pferd, auch die vier sassen auf, zogen[201] die Säbel und entflohen. Als sie aus dem Dorfe hinaus waren, riefen sie laut: »Wir haben Nûre geraubt; wer immer will, der komme und kämpfe mit uns.« Als das die Leute Schêch-Mûs-Agha's hörten, kamen sie und die Dorfbewohner hinab zum Kampfe. Jene tödteten zwanzig aus dem Dorfe und den Mirſ-Meḥamma; die Leute Schêch-Mûs-Agha's aber tödteten den Bruder Qaratâschdîn's Tschâko. Qaratâschdîn nahm Nûre mit und zog nach Hause. Plötzlich sagte er: »Nachdem sie meinen Bruder getödtet haben, tödte ich Aḥmed,« und damit erschlug er Aḥmed. Nûre aber brachte er zu sich nach Hause und traute sie sich an. Als er einen Sohn bekam, nannte er ihn Tschâko, nach seinem Bruder, denn er sagte: »Tschâko ist wiedergekommen.«

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 198-202.
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