V.

[16] Es war einmal ein Statthalter zu Diârbekr, der hatte eine Tochter, und um diese freite der Sohn des Statthalters von Baghdad. Eines Tages sagte die Tochter des Statthalters, sie wolle in den Garten gehen. Sie ging dorthin, sich zu vergnügen; denn sie hatte es verabredet mit dem Sohne des Richters; auch dieser kam in den Garten, und als er die Tochter des Statthalters getroffen hatte, setzten sie sich zu einander; er aber scherzte mit ihr und wohnte ihr bei. Darauf kam sie nach Hause zurück. Als ein Jahr verflossen war, holten die Leute des Statthalters von Baghdad sie ab für dessen Sohn; sie brachten Soldaten und eine Sänfte mit, und in die Sänfte setzte man sie nebst einer ihrer Sclavinnen. Unterwegs bekam die Prinzessin Wehen. »Ich habe Schmerzen«, sagte sie zu ihrer Sclavin. »Wo?« fragte jene. »Am Bauch und an den Hüften«, antwortete sie. Die Dienerin sprach zu ihr: »Du wirst doch nicht etwa schwanger sein?« »Ich weiss nicht«. »Sage es nur, es ist ja niemand hier«. »Komm, befüle mich«, bat die Braut. »Ja, du bist schwanger«, sagte die Dienerin, »du wirst gleich gebären und uns bei den Leuten in Schande bringen«. »Was sollen wir beginnen?« fragte die Tochter des Statthalters. Da rief die Sclavin den Dienern, welche die Sänfte führten. »Was gibt's?« fragten diese. »Haltet an«, befal sie, »damit die Prinzessin[16] etwas absteigt, um ein Bedürfniss zu verrichten«. Man liess halten, und die Prinzessin stieg nebst ihrer Sclavin aus; sie gingen in's Gras hinein, welches eine Elle hoch war. Die Dienerin rieb ihre Herrin am Rücken; da gebar diese ein Töchterchen. Sie aber kehrten unverzüglich zurück, stiegen in die Sänfte und reisten weiter; das Mädchen liessen sie im Grase liegen. »Weiter«, befal die Sclavin den Dienern; die Prinzessin aber sprach zu derselben: »Nun gib mir guten Rat«. »Verlass dich auf Gott und auf mich«, antwortete die Dienerin. So gelangten sie in ein Dorf und stiegen ab; die Diener fragten die Sclavin: »Mädchen«. »Ja«. »Was wollt ihr essen?« »Bringt uns ein schwarzes Huhn und holt uns Brot, wir wollen das Huhn schon selbst schlachten«. Da holten sie ihr das Verlangte; die Sclavin schlachtete das Huhn und tat dessen Blut in ein kleines Fläschchen. So reisten sie weiter und gelangten nach Baghdad; und die ganze Stadt, Männer, Weiber und Kinder machten sich zusammen auf, ihren Einzug anzusehen; man löste Kanonenschüsse bei der Ankunft der Braut des Sohnes ihres Statthalters. Als sie ihren Einzug gehalten hatte, brachte man sie nebst ihrer Sclavin in ein Zimmer; diese aber sprach zu ihrer Herrin: »Wenn nun der Prinz kommt, in sein eheliches Recht zu treten, so lege dein Tuch unter dich und sprenge auf das selbe einen Blutstropfen nach dem andern; so wird dein Mann nichts sagen und dich nicht in Schande bringen«. Als es Nacht wurde, kam der Prinz zu seiner Braut; sie tranken und belustigten sich; sie aber machte den Prinzen mit Brantwein betrunken. Wie er nun sich anschickte, in sein eheliches Recht zu treten, legte sie das Tuch unter sich; und nach der Heirat war dasselbe ganz voll Blutstropfen. Der Prinz betrachtete das Tuch und sah, dass Blut darauf war; da küsste er seine Frau; diese aber bat ihren Mann: »Gib der Sclavin ein grosses Geschenk; denn sie hat sich sehr für mich abgemüht«. Das tat er, ging dann zum Zimmer hinaus zu seinem Vater und verkündete ihm: »Vater, ich bin nun wirklich verheiratet«. »Gott sei Dank, mein Sohn«, antwortete dieser; da feuerten sie Kanonen ab und freuten sich. Die Sclavin aber zeigte das Tuch den Weibern des Statthalters, und diese gaben ihr ebenfalls ein Geschenk.

Auf dem Gebirge aber liess ein Kuhhirte sein Vieh weiden; da fand er ein kleines Mädchen, welches schrie; er tat es in seinen Ranzen und gab ihm Kuhmilch zu trinken bis zum Abend; dann kam er nach Hause und sagte zu seinem Weibe: »Frau«. »Was gibt's?« »Ich habe für uns ein Töchterchen gefunden«.[17] »Wo denn?« fragte sie. »Auf dem Gebirge«, antwortete er. »Sie wird vielleicht Angehörige besitzen«, meinte jene. »Fürchte nicht«, sagte er und zog das Mädchen aus dem Ranzen hervor. Da freute sie sich sehr darüber: denn sie hatten keine Kinder; aber als sie es im Backtrog wusch, bedeckte sich die ganze Oberfläche des Wassers in demselben mit Silber und Gold. Da freute sich der Hirt und seine Frau, lasen das Silber und das Gold zusammen, und der Hirt verkaufte es für zehntausend Piaster; jede Woche einmal badete sie das Kind, und jede Woche verkaufte der Hirt Gold und Silber für zehntausend Piaster, so dass er bald ein grösseres Haus machte, als der Statthalter, und man sagte: »Gott hat dem Hirten Reichtum geschenkt«. Der Hirt aber wurde ein Kaufmann, und seine Tochter wuchs heran; ihre Locken waren abwechselnd die eine von Silber und die andre von Gold, wie es nichts Schöneres in der Welt gibt. Daher sagte der Sohn des Ministers: »Nur die Tochter des Hirten will ich zur Frau, keine andere«. »Schön«, sagte man; denn der Hirt war ja Kaufmann geworden. Man freite dem Sohn des Ministers die Tochter des Hirten und holte sie ihm heim.

Sie pflegte aber ihren Vater, den Hirten, zu besuchen. Da fragten sie die Leute: »Wer ist dein Vater?« Sie antwortete: »Der Kuhhirt«. »Nein«, sagte man, »der ist nicht dein Vater«. »Aber wer denn?« fragte sie. Man antwortete ihr: »Auf dem Gebirge hat er dich gefunden«. Als das Mädchen das hörte, brach sie vor Wut todt zusammen. In Folge dessen tödtete der Sohn des Ministers manche Einwohner der Stadt mit dem Schwert. »Warum tust du so«? fragte man ihn. Er antwortete: »Ihr habt meiner Frau gesagt, der Hirte sei nicht ihr Vater«. »Wir wollen dir eine andere freien«, boten sie ihm an; aber er entgegnete: »Es sei fern von mir, dass ich nach dem Tode jener Frau je eine andere heirate«. Hierauf wurde er Derwisch und ging in die weite Welt. Auf der Reise gelangte er nach Baghdad und kam vor das Fenster der Schwiegertochter des Statthalters; dort schlug er die Handtrommel und weinte. Die Schwiegertochter des Statthalters hörte zu und fragte ihn: »Derwisch, warum weinst du?« Er antwortete: »Mein Kummer ist gross«. Darauf weinte er und gang ein Gedicht über die Geschichte des Mädchens, welches der Hirte gefunden und auferzogen hatte; wie es dann schön geworden sei, und wie der Sohn des Ministers um dasselbe gefreit habe, und wie man so und so zu ihr gesprochen habe und sie gestorben sei; »ich aber«, sagte er, »bin dieser Sohn des Ministers«.[18] Dazu weinte er immer fort, indem er diese Geschichte der Schwiegertochter des Statthalters von Baghdad, der Mutter des Mädchens, vorsang. Da fing auch diese an zu weinen, rief dem Derwisch und nahm ihn als ihren Diener zu sich. »O Herrin«, sagte er einmal. »Was gibt's? Derwisch«, fragte sie. Er entgegnete: »Dein Gesicht und deine Gestalt sind ganz wie die meiner Frau«; dann weinte er und sprach: »O Frau, so lange ich am Leben bleibe, will ich nicht von dir weggehen, sondern mich trösten mit deinem Anblick«. »Derwisch«, sagte die Frau. »Was gibt's?« fragte er. »Aber sag es Niemand«. »Nein«. »Jene war meine Tochter«. Da erzälte sie dem Derwisch alles, und er blieb für immer ihr Diener.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 16-19.
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