VI.

[19] Es war einmal ein Minister, der hatte weder Frau, noch Vater, noch Mutter. Es lebte dort auch eine Witwe, die war schön. Sie hatte Angehörige, und der Minister pflegte sie zu besuchen und ihr beizuwohnen; da wurde sie schwanger. Als ihre Zeit heranrückte, ging sie aus Scham vor den Leuten nicht mehr zum Hause hinaus. Sie gebar einen Sohn, den legte sie in eine Schachtel und tat ihm ein Stück Zucker in den Mund; darauf verschloss sie die Schachtel. Ihr Dorf war dem Meere nahe, daher nahm sie die Schachtel und warf sie in's Meer; die Schachtel schwamm davon und verschwand aus ihren Augen. Da kam ein Kaufmann auf dem Meer herangefahren; er sass auf dem Dampfschiff und rauchte gerade eine Cigarette. Plötzlich sagte er zu einem der Schiffer: »Schiffer!« »Ja!« »Geh in's Wasser und schwimme; da ist eine Schachtel, hole sie mir!« Der Schiffer mit zwei andern stieg in's Meer hinab; sie schwammen und trieben die Schachtel mit den Meereswogen vor sich her; als sie dieselbe zum Dampfschiff gebracht hatten, ergriffen sie sie und stiegen hinauf Da sagte der Schiffer: »Ich will sie öffnen«. »Warum willst du sie öffnen?« fragte der Kaufmann; »ich kaufe sie dir ungeöffnet ab«. Also erstand sie der Kaufmann auf gutes Glück um zehn Beutel: aber auch er öffnete sie nicht, sondern legte sie zwischen seine Warenballen. Darauf kam er nach Hause, und wie er nun im Verlauf einer Woche seine dringendsten Geschäfte zu Ende gebracht hatte,[19] sagte seine Frau zu ihm: »Mann!« »Ja!« »Was hast du uns in dieser Schachtel mitgebracht?« »Bei Gott«, antwortete er, »ich weiss nicht, was es ist; ich habe sie dem Schiffer für zehn Beutel abgekauft; bringe sie, wir wollen sie öffnen«. Sie holte sie, um sie zu öffnen; aber wie sie es auch anfingen, die Schachtel liess sich nicht öffnen. Da sagte er: »Lass die Schachtel dort stehen bis morgen; dann will ich einen Schlüssel für sie machen lassen«. Sie setzten sie hin und liessen sie stehen; aber wärend sie noch redeten, fing das Knäbchen an zu weinen. Der Kaufmann und seine Frau hatten aber keinen Sohn, sondern fünf Töchter. Wie nun das Knäbchen weinte, freuten sie sich und sagten: »O Gott, vielleicht ist es ein Knäbchen«. Jede ihrer Töchter gelobte der Mutter Gottes ein Gelübde, jede ein Goldstück. Jene Nacht schliefen sie nicht bis an den Morgen. Als der Morgen anbrach, sagten sie zum Kaufmann: »Auf, lass einen Schlüssel machen für die Schachtel«. Da ging der Kaufmann auf den Markt und liess einen Schlüssel machen. Er brachte ihn, steckte ihn in die Schachtel und öffnete sie; da ergab sich, dass ein Knabe darin war, der ein Stückchen Zucker in der Hand hatte. Sie freuten sich sehr, und die ganze Stadt hörte davon, dass der Kaufmann ein Knäbchen gefunden habe. Darauf erzogen sie den Knaben Jahr um Jahr, bis er zwanzig Jahre alt wurde. Da starb der Fürst der Stadt, und die Einwohner derselben fragten einander, wen sie zum Fürsten machen sollten; sie sagten: »Wir wollen Niemand aus unsrer Stadt dazu machen, sondern den Knaben, welchen der Kaufmann gefunden hat«. So machten sie ihn zum Fürsten über die Stadt, und er regierte als solcher vortrefflich; er befreite die Stadt von den Abgaben, und wenn Soldaten kamen, quartierte er sie in die Herbergen ein, (und nicht bei den Bürgern), und benahm sich trefflich. Hierauf freite man dem Fürsten eine Frau, und zwar die Tochter des Richters.

Vier Jahre vergingen, da wurde dieselbe schwanger und gebar eine Tochter. Die Leute der Stadt aber riefen: »O weh darüber, wäre doch nur unserm Fürsten ein Sohn geboren worden!« Das Mädchen wuchs indessen heran und wurde sehr schön. Sie verliebte sich in den Sohn des Kuhhirten, und jeden Tag, wenn sie vom Schlafe aufstand, nahm sie Speise mit sich und ging in's Haus des Kuhhirten. Da fragten sie die Leute und ihre Mutter und ihr Vater: »Wozu gehst du in's Haus des Kuhhirten?« Sie antwortete: »Ich gehe um zuzuhören, denn der Kuhhirt spielt uns auf der Flöte etwas vor«. Zu ihrem Vater aber sprach sie:[20] »Ich will nie einen andern heiraten, als den Sohn des Kuhhirten«. Da schmähte sie ihr Vater und schlug sie, indem er sagte: »Wer bin ich und wer ist der Kuhhirt«? »Wie du willst«, sagte sie. Eines Tages rief sie dem Sohn des Kuhhirten: »Komm, entführe mich zu Abu Sêd, dem Häuptling der Hilâl; der ist ein tapferer Mann«. Der Sohn des Kuhhirten machte sich auf und entführte die Tochter des Fürsten; dann reiste er mit ihr zu Abu Sêd, dem Häuptling der Hilâl; er und das Mädchen begaben sich unter das Zelt vor Abu Sêd; dann küssten sie dessen Hand und traten wieder zurück. Abu Sêd sah sie an und fragte: »Wer und was seid ihr?« Sie antworteten: »Wir sind Gäste«. »Zu Diensten; setzt euch!« Da setzten sie sich hin, und man zog das Tischleder vor sie: der Jüngling ass; das Mädchen aber sagte: »Ich mag nicht essen«. »Warum willst du nicht essen?« fragte Abu Sêd. »Darum«. »Das geht nicht an«, sagte Abu Sêd. »Ich will es dir sagen«, entgegnete sie, »wenn du es tust, so will ich essen; wo nicht, so will ich nicht essen«. »Rede, deine Sache steht bei Gott und bei mir«. Da erzälte sie: »Ich habe mich in den Sohn des Kuhhirten verliebt, aber mein Vater hat mich ihm nicht zur Frau geben wollen; da hat er mich entführt, und so bin ich mit ihm zu dir gekommen«. Da knirschte Abu Sêd mit den Zähnen und sprach: »Iss und habe keine Furcht, die Einwilligung deines Vaters ist meine Sache«. Hierauf speiste sie mit den Andern zu Abend und sie legten sich schlafen. Darnach rief Abu Sêd den Geistlichen und liess das Mädchen mit dem Sohn des Kuhhirten trauen; dann gab er ihm ein Zelt, sammelte ihm von jeder Familie ein Rind, ein Schaf und ein Kamel und schenkte sie ihm; da wohnte der Sohn des Kuhhirten bei ihnen. –

Unterdessen hörte die Familie des Fürsten, die Angehörigen des Mädchens, davon; in Folge dessen machte sich der Fürst mit seinen Räten auf, stieg zu Pferde und ritt zu Abu Sêd. Sie gelangten zu den Zelten und erkundigten sich nach dem Zelt des Abu Sêd: auch der Kaufmann, der Vater des Fürsten, war mitgekommen. Darauf traten sie unter das Zelt des Abu Sêd und setzten sich; man brachte ihnen das Abendessen und Kaffe, wie es in der Welt der Brauch ist; sie speisten, und man trug das Tischleder weg. Dann versammelte sich der Rat des Abu Sêd, und jene redeten mit ihm. Da fragte Abu Sêd: »Was ist euer Wunsch?« »O Abu Sêd«, antworteten jene, »unser Fürst hatte eine Tochter, die hat sich vom Sohn des Kuhhirten entführen lassen und ist in deinen Bereich gekommen, und das haben wir nicht gern«. »Sie[21] ist bei mir, sie und er«, antwortete Abu Sêd. »Dann verlangen wir, dass du sie uns auslieferest«. »Nein, das geht nicht«. »Ja freilich geht das an«. »Schlaft bis morgen«, sagte er. Da schliefen sie bis zum folgenden Tag, dann sagten sie: »Schnell, übergib sie uns!« Abu Sêd jedoch liess den Fürsten und dessen Begleiter hinausführen und befal sie zu pfälen und zu erhängen.

Hierauf hörte der Sultan, dass Abu Sêd solches getan habe; da sammelte er ein Heer und zog gegen ihn; sie kämpften mit einander, aber Abu Sêd besiegte das Heer des Sultans; dann sandte er diesem eine Botschaft und liess ihm sagen: »Führe nur Soldaten heran; so viele du deren mitbringst, so möge ich untergehen, wenn ich nicht dem Reich des Islam ein Ende mache«. Da schickte ihm der Sultan einen Brief mit freundlichen Worten: »Ich verlange von dir, der du wie mein Sohn bist, dass du unsere Befehle nicht übertretest und ein Jahr draussen bleibest, ohne über die Hilâl zu gebieten, und dass dieses Jahr über ein anderer an deiner Stelle regiere; dann kehre wieder unter die Hilâl zurück«. Abu Sêd willfahrte der Bitte, setzte einen andern zum Häuptling ein und sprach zu seinem Weibe: »Ich will in die weite Welt gehen; schlage dein Zelt draussen auf zur rechten Hand, und setze es auf einen Pfeiler«. Abu Sêd hatte keine Söhne, aber seine Frau war schwanger, ohne dass Jemand darum wusste. Darauf ging Abu Sêd fort nach Süden und kam an einer Zeltniederlassung der Beduinen vorbei. Nachdem er fünf oder sechs Tage gereist war, fand er eine Niederlassung von etwa zweihundert Zelten. Auf diese ging er los und fragte nach der Wohnung des Häuptlings Schêch Ghânim. Hierauf wohnte er bei ihnen als Gast, und sie erwiesen ihm Ehre und bewirteten ihn. Als er drei Tage sich bei ihnen aufgehalten hatte, bekamen die Beduinen des Schêch Ghânim Streit mit den 'Aenĕſe, deren Anführer Ssifûk hiess; daher machten sich die Leute des Schêch Ghânim auf und zogen in den Kampf gegen die 'Aenĕſe. Als Abu Sêd dies sah, röteten sich seine Augen vor Grimm; er knirschte mit den Zähnen und zog seinen Panzer an. In den Zelten blieb Niemand, die Männer zogen in die Schlacht, und die Weiber gingen hin zuzusehen. Abu Sêd bestieg seine Stute Werdăke, die tausend Truhen Geldes wert war, und ritt auf den Kampfplatz. Da schwang er seine Lanze mit der Hand und besichtigte die Lage. Er sah die 'Aenĕſe alle ohne Mützen, stürtzte sich auf sie und besiegte sie; dreitausend und einen tödtete er, bis er auf Ssifûk stiess. Da standen sich Abu Sêd und Ssifûk mit den Lanzen gegenüber; Abu[22] Sêd aber spornte Werdăke mit dem Steigbügel an und rief dem Ssifûk zu: »Dein Vater möge verdammt sein, ich bin Abu Sêd, der Vater der Färḥa und der Häuptling der Hilâl«. Sogleich stieg Ssifûk von seiner Stute ab, machte eine Verbeugung bis an den Boden und küsste den Fuss des Abu Sêd: dieser aber liess Ssifûk aufsteigen und nahm ihn mit zu Schêch Ghânim. Als die Leute des Schêch Ghânim erfuhren, dass jener Abu Sêd war, freuten sie sich sehr, wie er heran kam und Ssifûk mit sich brachte; und Männer und Weiber betrachteten den Abu Sêd und Ssifûk: die Weiber stimmten das Freudengeschrei an; zwanzig kamen von dieser und zwanzig von jener Seite und fassten den Abu Sêd, hoben ihn vom Pferde und führten ihn hinein. Da befal er: »Bringt Ssifûk vor mich!« Sie führten denselben zu ihm hinein. Darauf versammelte sich der Rat des Schêch Ghânim, und vor der Menge der Leute blieb kein Weg mehr zum Zelte übrig; wer kam, ging den Abu Sêd küssen. Kurz, der Tag ging vorüber, die Leute zerstreuten sich; Abu Sêd aber machte, dass Ssifûk und Schêch Ghânim einander küssten und Freundschaft schlössen. – Nachdem Ssifûk zu den 'Aenĕſe zurückgekehrt war, sagte Schêch Ghânim zu Abu Sêd: »Ich habe drei Töchter, heirate welche von ihnen du wünschest; eine von ihnen hat einen Mann, und zwei sind unverheiratet und noch zu Hause«. Da besah sich Abu Sêd die drei und sagte: »Ich will diese, die jüngste, haben«. Man traute sie ihm an, und er bekam sechs Söhne von ihr, deren Namen waren: Ḥosein, Ḥasan, 'Ali, 'Amer, Mûsa und Muḥammed. – Darauf stieg Abu Sêd zu Pferde und liess auch seine Söhne und seine Frau, ein jedes von ihnen auf ein Pferd steigen und zog nach Hause. Daselbst hatte auch seine, erste Frau einen Sohn geboren, Namens 'Aelâu. Die Hilâl freuten sich, dass Abu Sêd zurückgekehrt war und sechs Söhne und auch hier einen, also sieben Söhne, bekommen hatte; aber sie zitterten aus Furcht vor seiner Gewalt und zogen ihm entgegen mit Flöten und Pauken. – Darauf kam Abu Sêd heran und stieg mit seinen Söhnen beim Zelte ab; man legte die Regierung wieder in seine Hände. Einen Monat blieb er so zu Hause; dann stieg er mit seinen sieben Söhnen zu Pferde und reiste zum Sultan. Dieser hing dem Abu Sêd fünf Ordenszeichen um und jedem seiner Söhne eines. Hierauf kehrte er in seine Heimat zurück.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 19-23.
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