LXIV.

[259] Es war einmal eine Waise, ein Grindkopf, der weder Mutter noch Vater hatte. Er pflegte in die Häuser zu gehen und Brot zu stehlen, und die Leute schlugen ihn. Der Molla des Dorfes sagte einst zu ihm: »Du stiehlst immer Brot, bitte nur, so werden sie dir schon welches geben.« Da sagte er: »Molla!« »Ja!« »Ich möchte, dass du mir mein Schicksal im Buche aufschlügest, siehe, ob ich ein Armer werde oder ein Vornehmer.« »Schön!« entgegnete der Geistliche und schlug das Buch auf Dann sagte er: »Grindkopf!« »Ja!« »Wenn du nicht stiehlst, so wirst du Richter werden.« Da freute sich der Grindkopf und verdang sich als Diener bei den Türken; von der Regierung bekam er Monatsgelder und Kleidung. Er ward Officier. Einst rief der Gouverneur ihn zu sich und sagte: »Grindkopf!« »Ja!« »Werde Richter in der und der Stadt.« »Da du es befiehlst, so will ich es werden«, erwiderte er. Er legte einen weissen Turban an, nahm sein Patent vom Gouverneur in Empfang und ritt mit zwei Dienern zu der Stadt, welche ihm der Gouverneur angewiesen hatte. Er begab sich in's Regierungshaus, wo sich schon ein Richter befand, und nahm in der Versammlung Platz. »Wer bist du?« fragten ihn die Versammelten. »Ich komme als Richter her«, er widerte er. »Wer hat dich denn geschickt?« »Der Gouverneur.« »Wo ist das Patent, welches du mitgebracht hast?« »Ich habe keins mitgebracht«, entgegnete er, sich verstellend. »So mach dich weg.« »Nein, ich weiche nicht«, sagte er und holte das Patent hervor. Sie lasen es und sagten: »Es ist wirklich so.« Er nahm den Richtersitz[259] ein, und der frühere Richter war abgesetzt. So war er Richter in der Stadt geworden und sprach Recht. Die Ratsbeamten gewannen ihn sehr lieb. Einst bat er sie: »Macht mir ein Gerichtslocal, abgesondert vom Regierungshaus.« Sie erfüllten seinen Wunsch, und nun wohnte er in dem Gerichtslocale und sprach Recht. So verlief ein Jahr. –. Jene Stadt lag am Fusse eines Berges. –. Die kleinen Mädchen pflegten an der Thüre des Gerichtslocales vorüber zu gehen; jeden Tag holte er sich eine von ihnen herein und trieb Notzucht mit ihr. Nachdem er auf diese Weise zwanzig geschändet hatte, erfuhren es die Leute in der Stadt. Da sagten sie: »Richter, dergleichen darfst du nicht tun.« »Wie so?« fragte er. »Du schändest die Mädchen.« »Bewahre!« rief er, »ich weiss nichts davon.« »So schwöre uns auf das heilige Buch, dass du nichts davon weisst.« »Heute ist Freitag«, entgegnete er, »da schwöre ich nicht, das wäre Sünde, morgen will ich schwören.« Damit waren sie einverstanden. Als der folgende Tag anbrach, verbarg er den Qorân und legte ein Buch ohne Schrift auf die Kiste. Der Rat kam und forderte ihn auf: »Nun schwöre.« »Ja, ich will schweren«, antwortete er. »Gut«, sagten sie. Da schwor er: »Bei diesem Buche, ich weiss nichts von den Mädchen.« »Es ist wirklich so«, sagten jene und glaubten es. Sie dachten, es sei der Qorân, bei dem er schwöre, und wussten den wahren Sachverhalt nicht, daher glaubten sie ihm. Da fragte er: »Habt ihr sonst noch etwas?« »Nein.« –. Nach vier Tagen holte er sich ein ausgewachsenes Mädchen herein und buhlte mit ihr. Sie verriet ihren Eltern nichts davon. Aber sie ward schwanger. Als ihre Eltern sie in diesem Zustande sahen, fragten sie sie: »Wesshalb hast du so gehandelt?« »Wie so?« »Du bist schwanger.« »Was soll ich anfangen?« versetzte sie. Da fragten sie weiter: »Von wem bist du's?« »Vom Richter.« »Wenn das Kind zur Welt kommt, so geh hin und lege es vor den Richter«, rieten sie ihr, »aber lass die Leute nichts von der Sache merken, denn du bringst uns in Schande, wenn die Leute es hören.« »Gut«, erwiderte sie. Sie gebar einen Knaben, wickelte ihn in Windeln und brachte ihn ohne Aufsehen in der Nacht zum Richter. Als sie ihn ihm auf den Schoss legte, fragte er: »Was ist das?« »Du hast meine Liebe genossen«, versetzte sie, »und ich bin schwanger geworden; als der Kleine zur Welt kam, sagten meine Eltern, ich möchte gehen und ihn dir zu Füssen legen; nun habe ich ihn zu dir gebracht, ziehe ihn auf.« Damit ging das Mädchen hinaus und liess das Kind beim Richter. Am andern Morgen erzälte[260] der Richter: »Meine Frau in meiner Heimat hat einen Sohn geboren und ist gestorben; sie haben ihn mir geschickt und mir sagen lassen, ich möchte ihn aufziehen.« »Wirklich?« fragten die Leute. »Ja, da ist er.« »Was willst du nun mit ihm anfangen?« fragten sie weiter. »Sucht ihm eine Amme, ich will ihr monatlichen Lohn geben«, antwortete der Richter. Da erkundigten sie sich nach einer solchen für ihn. Eine bot sich an: »Ich will ihn säugen.« Sie brachten ihn zu ihr, und der Richter gab der Frau ihre Kost und ihre Kleidung, und gab ihr Monatslohn, hundert Piaster den Monat. Als der Kleine herangewachsen war, nahm der Richter ihn zu sich, und er blieb bei ihm. –. Unterdessen hatten die Verwandten des Mädchens dasselbe einem Manne zur Frau gegeben. Als er bei ihr schlief und ihre Liebe genoss, stellte es sich heraus, dass sie nicht mehr Jungfrau war. Da sagte er: »Kehre zurück in deines Vaters Haus, ich kann dich nicht brauchen.« »Wesshalb?« fragte sie. »Es hat sich gezeigt, dass du nicht mehr Jungfrau bist.« »So gib mir meinen Hurenlohn«, versetzte sie. Er aber entgegnete: »Geh, lass dir deinen Hurenlohn von dem geben, der dich geschändet hat.« Da kam sie zu ihren Eltern und erzälte es ihnen; diese verklagten den Mann, aber der Gouverneur entschied nach dem Gesetz: »Das Mädchen fällt dem zu, welcher sie geschändet hat, nicht aber dem Manne.« Jedoch der Richter sagte: »Sie fällt dem Manne zu.« »Du lügst, Richter!« riefen die anwesenden Räte, »ruft das Mädchen, damit wir sehen, wer sie geschändet hat.« Der Richter verging fast vor Furcht. Sie gingen sie rufen, und sie kam in die Versammlung. »Wer hat dich deiner Jungfrauschaft beraubt?« fragten sie, »wenn du es nicht der Wahrheit gemäss sagst, so zünden wir ein Feuer an und verbrennen dich.« Der Richter flüsterte ihr zu: »Sage es nicht, nenne einen andern.« »Nun sprich«, sagten die Räte. Da antwortete sie: »Wenn ich's der Wahrheit gemäss sagen soll, der Richter.« »Nein! Lügen!« rief dieser. Aber sie sagte: »Freilich wol! woher ist denn der Kleine? von mir ist er.« »Wirklich?« »Ja.« Da sagte der Mann: »Sie hat offen gestanden, jetzt will ich sie als meine Frau anerkennen und sie annehmen.« Da gaben sie dem Manne die Frau und den Jungen, dem Richter aber schnitten sie die Zunge ab. Dann liefen sie hinter ihm her, um ihn zu tödten; er aber entfloh, und da er nicht wusste, wohin er sich wenden sollte, irrte er im Gebirge umher.

Dort traf ihn eine Bärin und fragte ihn: »Wonach suchst du?« Er gab keine Antwort, er war ja stumm. Da fasste sie ihn beim[261] Arme und führte ihn mit sich zu ihrem Aufenthaltsorte unter den Bären. Diese fragten: »Woher hast du diesen?« »Er ist in meine Hände geraten«, erwiderte sie. »Wirst du ihn fressen?« »Nein, ich will ihn zu meinem Manne machen.« Als sie ihn in ihre Wohnung geführt hatte, fragte sie ihn: »Wesshalb sprichst du nicht?« Da zeigte er mit der Hand auf seine Zunge, und die Bärin merkte, dass er stumm war. Sie legte ihm eine Kette um den Hals, und er musste bei ihr schlafen. So oft sie hinausging, legte sie ihm die Kette um den Hals, und er konnte sie nicht losmachen. Die Bärin gebar ihm zwei Söhne und eine Tochter, acht Jahre blieb er bei ihr. Eines Tages war die Bärin auf die Jagd gegangen, da machte der Richter seinem Sohne durch Zeichen verständlich, er möchte ihm die Kette vom Halse losmachen. Als jener die Kette losgemacht hatte, fragte der Richter die Kinder: »Wollt ihr mit mir gehen?« »Wohin?« »Ich will euch in meine Heimat führen.« Die Söhne sagten ja, aber das Mädchen erklärte: »Ich gehe nicht mit, ich will bei meiner Mutter bleiben.« Da entfloh der Richter mit den Knaben und kam in die Stadt, wo er Richter gewesen war. Die Leute sagten: »Wir wollen ihn nicht mehr tödten, wir haben ihm die Zunge abgeschnitten, es ist genug, er hat jetzt gebüsst.« Darauf sprachen sie zu ihm: »Wohne ruhig in der Stadt.« »Ja«, versetzte er. »Diese Knaben, woher sind sie?« fragte man ihn. Er erzälte es ihnen, wie es sich zugetragen hatte. Da sagten sie: »Es macht nun nichts mehr.« Als die Bärin nach Hause kam, fand sie ihren Mann und ihre Söhne nicht mehr; da wurde sie wie toll und fragte das Mädchen: »Wo ist dein Vater und deine Brüder?« Sie antwortete: »Mein Vater hat sie weggeführt und ist mit ihnen entflohen.« »Wohin ist er gegangen?« »Das weiss ich nicht.« Wie besessen lief die Bärin hinaus, die Tochter folgte ihr; aber die Bärin wusste nicht, dass die Tochter hinter ihr war. Als das Mädchen müde wurde und sich hinsetzte, ging die Bärin immer weiter, nach dem Manne suchend. Die Tochter der Bärin war sehr schön, von menschlicher Gestalt. Nun war gerade ein Fürst auf die Jagd hinausgezogen; nach Gasellen suchte er. Seine Leute fanden die Tochter der Bärin und fragten sie: »Wesshalb bist du hier?« Sie erzälte ihnen, wie es sich verhielt. Da befal der Fürst, sie auf ein Pferd zu setzen. Sie setzten sie auf ein Pferd, der Fürst nahm sie mit sich und gab sie seinem Sohne zur Frau. Ihr Name wurde berühmt in der Welt, denn sie war sehr schön. Die Leute erzälten sich: »Der Fürst hat seinem Sohne eine wunderschöne Braut von den Bären geholt.«[262]

Als die Bärin erfuhr, dass der Richter in jener Stadt war, begab sie sich in dieselbe und fragte nach ihrem Manne und ihren Söhnen. Aber die Leute schössen mit Flinten auf sie, da frass sie viele der Bewohner. Endlich vertrieben sie sie. Sie begegnete einem Fuchse, der fragte sie: »Wesshalb ist man so mit dir verfahren?« »Mein Mann und meine Söhne sind hier«, erwiderte sie, »er ist entflohen, und ich suche nach ihm, aber sie lassen nicht zu, dass ich sie sehe, sondern schiessen mit Flinten auf mich; aber ich habe viele von ihnen gefressen und getödtet.« Da sprach der Fuchs: »ich will dir ein Wort sagen.« »Sprich!« »Gegen die Stadt hast du keine Macht«, hob er an, »aber auf dem Berge ist ein grosser Fluss, welcher mit Pech und Harz wol eingedämmt ist; mache dem Wasser eine Oeffnung und lass es gegen die Stadt los, dann werden sie die Flucht ergreifen, und du wirst deinen Mann und deine Söhne sehen.« »Ich weiss nicht, wo der Fluss ist«, entgegnete sie. »Was gibst du mir, wenn ich ihn dir zeige?« fragte der Fuchs. »Ich habe eine schöne Tochter«, versetzte die Bärin, »sie ist einzig schön, von menschlicher Gestalt, die will ich dir geben.« »Schön!« sagte er, »aber schwöre, dass du nicht lügest.« Als die Bärin geschworen hatte, forderte er sie auf, ihm zu folgen. Sie ging mit ihm, er zeigte ihr den Fluss; sie machte dem Wasser eine Oeffnung, und wie ein Meer ergoss sich der Fluss über die Stadt. Ein grosses. Getöse erhob sich in derselben, und sie füllte sich mit Wasser. »Wir ertrinken«, riefen die Leute, »lasst uns fliehen.« Sie ergriffen die Flucht; viele Kinder ertranken. Unter den Fliehenden bemerkte die Bärin einen ihrer Söhne und ihren Mann; der andere war ertrunken. Sie ging nun auf die Leute der Stadt los, diese riefen: »Liebste, wir wollen dir nicht widerstreben, da ist dein Mann und dein Sohn.« Sie antwortete: »Erhebt keinen Widerspruch gegen mich, dann werde ich euch nicht tödten; ich will der Fürst eurer Stadt werden.« »So sei es!« sagten sie – der Fuchs war noch immer bei ihr. –. Darauf baten die Leute sie, sie möchte den Fluss wieder verstopfen. Sie willfahrte diesem Wunsche. Nun regierte sie über die Stadt, und die Leute wagten nicht mehr, einander etwas zu stehlen, aus Furcht vor ihr. Sie fragte ihren Mann: »Wo ist mein anderer Sohn?« »Du hast ihn ertränkt«, erwiderte er. Da sagte sie: »Das hat der Fuchs getan.« –. Nach einiger Zeit gingen die Leute der Stadt einer zum andern und sprachen: »Die Bärin regiert über uns, kommt, lasst uns sie tödten.« Als sie schlief, richteten sie zwei Kanonen auf sie und legten Lunte an dieselben. So tödteten[263] sie die Bärin und verbrannten sie. Der Richter war nun mit seinem Sohne allein. Da kam der Sohn des Mädchens zu ihm und sagte: »Dieser ist mein Vater.« »In der Tat, er ist dein Vater«, antwortete man ihm. Die beiden Söhne des Richters wuchsen heran und regierten über die Stadt. Der Fuchs war noch immer im Hause des Richters. Einst fragte dieser ihn: »Wesshalb bist du hier, Fuchs?« »Die Bärin hat mir versprochen«, antwortete er, »mir ihre Tochter zu geben.« »Komm«, erwiderte der Richter, »wir wollen sehen, ob sie zu Hause ist, und sie hierher bringen.« »Vorwärts!« sagte der Fuchs. So ging er mit dem Richter zur Wohnung der Bärin; aber sie fanden das Mädchen dort nicht. »Es hat sie einer weggeführt«, dachten sie und kehrten zurück. Der Richter ging nach Hause, und der Fuchs begab sich in's Gebirge. Da kam ein hungriger Wolf heran; als der den Fuchs erblickte, wollte er ihn fressen. »Was willst du, Wolf?« fragte der Fuchs. »Dich fressen will ich.« »Wesshalb willst du mich fressen? Ich bin ein Kaiser.« »Bah! ich bin hungrig.« »Ich will dir einen Schein geben«, versetzte der Fuchs, »damit gehst du in jenes Dorf, dann werden sie dir drei Ziegen geben, die kannst du fressen.« »Wenn sie sie mir aber nicht geben?« warf der Wolf ein. »Zeige nur den Schein, sie werden sie dir schon geben.« Der Wolf nahm den Schein und begab sich in das Dorf. Da bellten die Hunde ihn an; er zeigte den Hunden den Schein, aber sie kamen auf ihn los; von neuem zeigte er ihnen den Schein, aber die Hunde verstanden nicht, was der Schein bedeuten sollte, sondern packten den Wolf. Er entfloh, die Hunde verfolgten ihn, aber er entwischte und kam glücklich zum Fuchse. »He! haben sie sie dir gegeben?« fragte dieser. »Nein«, erwiderte er. »Wesshalb nicht?« »Ich ging in das Dorf«, erzälte der Wolf, »da griffen die Hunde mich an, ich zeigte ihnen den Schein, aber sie verstanden nicht, was der Schein bedeutete, wussten nicht, wer ihn annehmen und wer ihn lesen sollte, sondern sie wollten mich fressen.« »So geh in jenes Dorf«, antwortete der Fuchs, »und nimm den Schein mit.« »Aber die Hunde werden mich angreifen«, warf der Wolf ein. »Dort gibt's keine Hunde«, beruhigte der Fuchs. Der Wolf ging; aber die Bewohner des Dorfes zogen mit Flinten gegen ihn. Sie sagten: »Da ist der Wolf, welcher unsern Esel gefressen hat«, und schössen die Flinten gegen ihn ab. Verwundet kam der Wolf zum Fuchse zurück. »Fuchs!« rief er. »Ja!« »Sie haben mich todt geschossen.« »Sei nicht traurig, es wird dir schon wieder besser werden«; dann fuhr der Fuchs fort: »Ich werde hingehen[264] und das ganze Dorf verhaften lassen; wesshalb haben sie dich verwundet!« Der Wolf aber starb.

Der Fuchs kehrte zum Hause des Richters zurück und sagte: »Richter!« »Ja!« »Hast du deine Tochter nicht gefunden?« »Nein.« »Wenn ich nach ihr suche und sie finde, was gibst du mir?« »Dann gebe ich dir, was immer du willst«, versetzte der Richter. Der Fuchs brach auf, sie aufzusuchen. Als er in die Stadt kam, wo das Mädchen sich befand, fragte er nach der Wohnung des Fürsten. Er begab sich zu derselben und sah dort die Tochter der Bärin. »Dem sei, wie ihm wolle«, dachte er, »das muss die Tochter der Bärin sein.« »Bist du nicht die Tochter der Bärin?« fragte er sie. »Freilich«, antwortete sie, »aber woher weisst du, dass ich die Tochter der Bärin bin?« Da erzälte er ihr alles, wie es sich zugetragen hatte, und schloss: »Dein Vater und dein Bruder sind noch am Leben.« »Ist mein Bruder bei meinem Vater?« »Ja.« »So geh und sage meinem Vater und meinem Bruder, ich lasse sie bitten, sie möchten kommen und mich zu sich holen.« »Ja«, antwortete der Fuchs, »ich will gehen; dein Vater hat mich hergeschickt«, indem er sprach: ›geh und suche nach ihr.‹ Darauf ging der Fuchs und erstattete dem Richter und dessen Söhnen Bericht. Diese gürteten ihre Schwerter um, stiegen zu Pferde und baten den Fuchs: »Komm und zeige uns sie, damit wir sehen, wo sie ist.« Der Fuchs kam mit ihnen dorthin und sagte: »In dieser Stadt ist sie.« Die drei begaben sich zum Fürsten und stiegen bei ihm ab. Als das Mädchen sie sah, küsste sie ihren Bruder und freute sich sehr. Da fragte ihre Umgebung sie: »In welcher Beziehung stehst du zu diesen Leuten?« »Der eine«, antwortete sie, »ist mein Vater, die beiden andern sind meine Brüder, aber der eine von ihnen hat nicht dieselbe Mutter, wie ich.« Das hatte ihr der Fuchs erzält. Nun sagte auch der Richter: »Sie ist meine Tochter.« Aber die Leute sagten: »Wir haben sie gefunden.« »Gebt sie uns«, bat der Richter. Aber sie weigerten sich, sie ihm zu geben. Da sprang der Bruder auf, fasste sein Schwert und erschlug den Fürsten und dessen Sohn. Dann gingen sie hinaus und nahmen das Mädchen mit; die Bewohner der Stadt aber wagten nicht, sie anzugreifen. So brachten sie das Mädchen nach Hause. Ein Jahr blieb sie dort Viele Leute kamen, um ihre Hand anzuhalten, aber ihr Bruder gab sie Keinem zur Frau. Einst erzälte man ihm, der Löwenkönig habe eine schöne Tochter. Da machte er sich auf zum Löwenkönig. »Wesswegen bist du hergekommen?« fragte ihn dieser.[265] »Ich bin zu dir gekommen«, erwiderte er, »ich möchte deine Tochter haben.« »Für wen?« »Für mich selber.« »So bringe meinem Sohne eine Frau, dann will ich dir meine Tochter geben.« »Ich habe eine Schwester«, erwiderte er, »die war verheiratet, aber ihr Mann ist gestorben, diese wollen wir deinem Sohne geben, und du gibst mir deine Tochter.« »So geh und hole sie, damit wir sehen, ob sie schön ist.« »Ich gehe«, antwortete er und ging seine Schwester holen. Sie besahen sie und erklärten sich einverstanden. Dann verheirateten sie sie mit dem Sohne des Löwenkönigs, und die Tochter des letztern verheirateten sie mit dem Sohne des Richters. Als dieser nun nach Hause gehen wollte, bat ihn seine Schwester: »Bleib hier, Brüderchen, bei uns.« »So will ich gehen und auch meinen Vater holen«, antwortete er. Er ging in die Stadt und holte seinen Vater. Aber den Sohn der andern liessen sie dort zurück. Der Grindkopf und sein Sohn blieben darauf im Hause des Löwenkönigs wohnen.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 259-266.
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