LXX.

[287] Es war einmal ein kranker Esel, der dachte: »Ich sterbe fast vor Hunger, ich will in's Gebirge gehen.« Dort weidete er und wurde wieder hergestellt. Da kam der Wolf, ihn zu fressen, der Esel aber sprach zu ihm: »Warum willst du mich fressen? mein Vater selig und dein Vater waren ja doch Freunde.« »Ist das wahr?« fragte der Wolf. »Weisst du denn das nicht?« antwortete der Esel. »So lass uns zusammen uns in der weiten Welt herumtreiben.« Sie gingen miteinander; der Esel aber machte sich eine Handpauke und spielte darauf; dann sagte er: »Wolf, mache dir eine Mandoline und spiele darauf; wir wollen uns Geld sammeln.« Der Wolf sagte: »Wir brauchen dazu Hare vom Schwanze eines Pferdes.« »So geh«, antwortete der Esel, »und lass uns ein Pferd suchen.« Sie gingen ein Pferd suchen und fanden eines. »Da ist ein Pferd!« rief der Esel, »geh, ziehe ihm Hare aus.« »Meine Pfoten tun mir weh, ich kann keine ausziehen«, entgegnete der Wolf. Da ging der Esel hin, dieselben auszuziehen; aber so wie er den Schwanz des Pferdes ergriff, gab ihm dieses einen Hufschlag, so dass er davon zu Boden fiel. Darauf kam der Wolf an den Esel heran, um ihn zu fressen; dieser aber sagte: »Sind wir denn nicht Vettern?« Jener antwortete: »Bis jetzt waren wir Vettern; aber nun sind wir einander nichts mehr«, und frass den Esel. »Warum hast du den Esel gefressen?« fragte das Pferd. »Er hat dir Hare aus dem Schwanz ziehen wollen, und ich wollte dies nicht zugeben!« versetzte der Wolf. »Wir wollen Brüder sein«, sagte das Pferd zum Wolf. »Auf«, sagte dieser, »wir wollen gehen, uns Nahrung zu suchen.« Das Pferd ging mit dem Wolf in die weite Welt; da sagte der Wolf: »Ich bin durstig; wir wollen Wasser suchen.« Im Weitergehen erblickten sie eine kleine Cisterne, worin Wasser war. Der Wolf bückte sich; konnte aber nicht hinlangen, um mit seiner Mütze Wasser[287] herauszuholen, und sagte zum Pferd, er könne es nicht erreichen. Da bückte sich das Pferd zum Wasser hinunter; der Wolf aber packte es bei den Hoden. Schnell stand das Pferd auf, um den Wolf zu schlagen, und fragte, warum er das getan habe. »Wie so denn?« fragte dieser. »Wärend ich Wasser herausholen will, packst du mich bei den Hoden!« Der Wolf antwortete: »Ich dachte, du wärest vielleicht hineingefallen, desswegen wollte ich dich herausziehen!«

Das Pferd aber bewahrte diesen Umstand im Gedächtniss. Sie gingen ohne Wasser weiter; da erblickten sie einen Hirten. »Geh, stiehl uns eine Ziege«, sagte das Pferd zum Wolf. »Ich kann nicht laufen«, antwortete dieser, »ich bin krank und schwach.« »Aber wie sollen wir's denn anfangen?« fragte das Pferd, »komm, setze, dich auf mich, packe die Ziege und lege sie mir auf den Rücken; du sitzest dann auf mir, und ich laufe davon.« »So soll es sein«, sagte der Wolf. Der Wolf stieg auf das Pferd, und dieses schritt auf den Hirten zu; der Wolf beugte sich hinunter, ergriff eine Ziege, legte sie vor sich aufs Pferd, und dieses entfloh. Die Ziege aber meckerte; der Hirt schoss sein Gewehr auf sie ab, doch traf er nicht. Wärend das Pferd davon lief, frass der Wolf die Ziege auf dem Rücken des Pferdes, ohne dass dieses es merkte. Darauf sagte das Pferd zum Wolf: »Wir sind nun weit genug geflohen; der Hirte kann uns nicht mehr finden.« Da stieg der Wolf vom Rücken des Pferdes herunter. »Wo ist die Ziege? Wolf!« fragte das Pferd. »Ich habe sie dem Hirten hingeworfen«, antwortete dieser, »er holte uns mit dem Gewehr ein und wollte auf uns schiessen; da habe ich ihm die Ziege hingeworfen, und er kehrte um und liess uns in Ruhe.« »Du lügst«, antwortete das Pferd. »Ich schwöre beim Wallfahrtsort, ich lüge nicht.« »Bei welchem Wallfahrtsort?« fragte das Pferd. »Bei dem von Chalbûbe!« »Ich glaube es nicht, wenn du mir nicht den Wallfahrtsort zeigst; komm, zeige mir ihn; dann will ich dir glauben.« »Bleibe hier«, sagte der Wolf; »ich will hingehen und mich darnach erkundigen, wo er ist.« Das Pferd blieb daselbst; der Wolf ging weg. Da traf er ein wildes Schwein an und rief: »Schwein, bist du hungrig?« »Ja; was hast du denn zum Fressen gefunden, Wolf?« »Willst du mir auch davon zu fressen geben?« fragte er das Schwein. »Ja.« »So mache eine Grube und decke dich mit Heu zu; ich will hingehen das Pferd herbeizuholen; ich muss ihm einen Eid leisten; ich werde vortreten, denselben zu schwören; wenn dann das Pferd[288] auf dich hinschaut, tödten wir es.« Das Schwein war damit einverstanden, machte eine Grube, und der Wolf deckte es zu: nur die Augen des Schweines liess er unbedeckt; darauf ging er hin, um das Pferd herbeizurufen. »Komm, Pferd«, sagte er, »ich habe den Wallfahrtsort gefunden.« Als das Pferd sich näherte, liess sich ein Grunzen vernehmen, das vom Rüssel des Schweines herkam. »Was ist das für ein Grunzen? Wolf«, fragte das Pferd. »Das ist der Wallfahrtsort von Chalbûbe«, antwortete der Wolf, »derselbe ist ganz ausgezeichnet wirksam! niemand kann dabei falsch schwören!« Das Pferd trat näher hinzu; der Wolf aber ging hinten um dasselbe herum und sagte: »Blicke nur scharf darauf« Da blickte das Pferd dorthin; aber das Schwein packte es, und wie es rückwärts gehen und entfliehen wollte, wurde es von hinten durch den Wolf gepackt; darauf warf das Schwein das Pferd zu Boden. »Wolf!« rief das Pferd, »handle nicht so an mir.« Der Wolf antwortete: »Ich schwöre dir, aber du willst ja nicht glauben.« Dann tödteten sie das Pferd; das Schwein frass davon, liess jedoch den Wolf nicht mitfressen. Dieser dachte bei sich selber: »Du handelst schön an mir!«

Das Schwein frass das Pferd auf, wurde aber nicht satt davon. »Bist du satt, Bruder?« fragte der Wolf. »Warhaftig, nein.« »So komm, wir wollen weiter gehen und noch etwas suchen.« Sie gingen also weiter und zogen im Gebirge umher. Als die Sonne unterging, fragte das Schwein: »Wo wollen wir uns schlafen legen?« »Hier wollen wir schlafen«, antwortete jener, »lege du dich in jene Grube, damit du nicht frierst; und ich will hier schlafen und dich bewachen.« »Schön«, sagte jenes. Darauf schliefen das Schwein und der Wolf bis zum Morgen; am Morgen aber machte sich der Wolf auf den Weg und traf zwei Jäger an, welche Gewehre bei sich hatten; er fragte sie, was sie suchten. Sie entgegneten: »Wir suchen ein Schwein, um eine Arznei für die Gicht daraus zu bereiten.« »Ich will euch ein Schwein weisen«, sagte er; »wollt ihr mir dafür ein Zicklein geben?« Sie versprachen dies. Da führte der Wolf sie dahin, wo das Schwein schlief und sagte: »Da ist es; tödtet es!« Jene legten ihre Gewehre auf dasselbe an und tödteten es. »Du hast mich nicht gewarnt, Wolf!« rief es noch. »Du hast mir ja vom Pferd nichts zu fressen gegeben, Schwein!« versetzte dieser. Sie tödteten also das Schwein und schafften es mit sich fort; der Wolf aber verlangte nun das Zicklein. »Komm mit uns!« antworteten jene. Er folgte ihnen; sie gaben ihm das Zicklein, und er frass es.[289]

Unterdessen kam singend der Fuchs hinzu und sah den Wolf fressen. Da rief er: »Wolf!« »Ja!« »Was frissest du?« »Ich fresse ein Zicklein«, antwortete er. »Ueberlass mir auch ein Stückchen davon!« bat der Fuchs. Dies tat der Wolf, und der Fuchs verzehrte es, indem er sagte: »Ah, wie schmeckt das so gut! woher hast du das bekommen? Wolf!« »Es ist mir durch Zufall in die Hände gekommen«, antwortete dieser. Darauf sagte er zu ihm: »Wir wollen zum Hochzeitsschmaus der Nachtigall gehen; denn sie hat ein grosses Essen zugerüstet; wir wollen hingehen und uns satt fressen.« In Folge dessen gingen sie zu einem alten Schlangenweibe, und der Fuchs rief: »Alte! wo ist die Wohnung der Nachtigall?« »Nach dieser Richtung hin«, antwortete jene. Der Wolf ging also mit dem Fuchs zur Wohnung der Nachtigall, und sie fragten sie, ob sie einen Hochzeitsschmaus zugerichtet habe. »Warhaftig nein, noch habe ich dies nicht getan.« Darauf schliefen sie im Hause der Nachtigall; diese war aber alt; und da ihr Weibchen gestorben war, wollte sie sich ein anderes Weibchen heimführen. Nun besass die Nachtigall einen Widder, der im Hofe angebunden war. Daher standen der Wolf und der Fuchs zur Nachtzeit auf, banden den Widder los und entführten ihn. Als die Nachtigall erwachte und den Widder nicht mehr fand, erhob sie ein Geschrei nach Hilfe, aber Niemand kam. Indessen ging der Wolf mit dem Fuchs weiter; der Wolf frass den Widder, ohne den Fuchs mitfressen zu lassen; und als er ihn ganz verzehrt hatte, sagte er: »Ich brenne vor Begierde nach Trauben; lass uns an die Trauben gehen.« Hierauf gingen der Fuchs und der Wolf vor den Weingarten, der Fuchs voraus, der Wolf hinterdrein. Da erblickte der Fuchs eine Falle, die gestellt war, und auf ihr lag ein Stück Käse; der Fuchs merkte, dass es eine Falle war, und rief: »Wolf! nimm doch das Stück Käse!« »Warum greifst du denn nicht zu?« fragte dieser. »Ich muss fasten«, antwortete er. Wie nun aber der Wolf das Stück Käse fassen wollte, geriet er in die Falle. Dabei sprang das Stück Käse aus der Falle heraus; der Fuchs ergriff es und frass es. »Warum hast du es gefressen? Fuchs«, fragte der Wolf, »musst du denn nicht fasten?« »Ich faste nur so lange, bis du in die Falle hineingetreten bist, nun ist aber das Fest angebrochen.« »Gut«, sagte der Wolf; »aber komm, befreie mich aus der Falle!« Das tat er und zog die Falle von seinem Bein. »Warum hast du den Käse gefressen?« fragte der Wolf. Jener erwiderte: »Du willst[290] immer alles für dich; du hast den Widder gefressen, ich halbe den Käse gefressen; jetzt sind wir quitt.«

Sie gingen weiter und trafen einen Löwen an; der schlug ihnen vor, sich mit ihm zu verbrüdern. Sie erklärten sich einverstanden und verbrüderten sich mit ihm. Darauf sagte der Wolf: »Wir wollen Ziegen stehlen gehen.« Als sie unterwegs eine Hürde Ziegen gefunden hatten, fragten sie: »Wer soll in die Hürde hinabsteigen?« »Der Wolf«, hiess es. Der Wolf stieg hinunter, und sie stalen einen Widder, einen Bock und ein Zicklein; darauf entflohen sie und gingen in ein einsames Gebirge, wo kein, Mensch wohnte. Da sagte der Löwe zum Wolf: »Verteile die Beute!« »Gut«, sagte der Wolf und verteilte sie: »der Widder soll dein sein«, sagte er zum Löwen, »der Bock mein und das Zicklein für den Fuchs.« Da versetzte der Löwe dem Wolf einen Schlag über den Kopf, dass seine Augen aus ihren Hölen sprangen; dann forderte er den Fuchs auf, zu teilen. Der sprach: »Der Widder soll dein sein zum Abendessen, der Bock für das Frühstück und das Zicklein für das Mittagessen.« »Bravo, Fuchs!« sagte der Löwe, »woher hast du so vernünftig urteilen lernen?« »Von den Augen des Wolfes habe ich es gelernt«, antwortete dieser. Jener sagte: »So komm, wir wollen miteinander fressen.« Darauf frassen sie und machten sich wieder auf den Weg. »Komm, wir wollen auf Raub ausgehen«, schlug der Löwe vor; der Fuchs aber hatte gemerkt, dass der Löwe ihn tödten wollte, und antwortete daher: »Ich will geschwind nach Hause gehen, denn ich habe kleine Kinder; wenn ich nach ihnen gesehen habe, will ich wieder kom men.« Der Fuchs lief fort und liess sich nicht mehr blicken; der Löwe wartete auf ihn, aber der Fuchs kam nicht zurück. Sie sahen sich niemals wieder.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 287-291.
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