VIII.

[26] Es war einmal ein Vater, der hatte zwölf Söhne; aber den jüngsten liebte er mehr, als alle andern; derselbe hiess Jûsef, und man liess ihn keine Arbeit tun, sondern müssig bleiben. Aber seine Brüder wurden zornig über ihn, und als sie einmal gingen die Ernte schneiden, sagten sie: »Väterchen!« »Ja!« »Schicke uns Essen durch Jûsef«. »Ja«, entgegnete dieser. Hierauf gingen sie ernten, Jûsef machte sich auf und brachte ihnen, auf einem Kamel reitend, Brot. Inzwischen besprachen sich die andern Söhne unter einander; einige sagten: »Wie nun?« andere: »wenn Jûsef kommt, wollen wir ihn in die Cisterne werfen; warum liebt ihn unser Vater mehr, als uns?« »So soll es geschehen«, sagten sie. Als er nun heran kam und abgestiegen war, packten sie ihn und Warfen ihn in die Cisterne. Gegen Abend kamen sie nach Hause, und ihr Vater fragte: »Wo ist Jûsef?« »Wir haben ihn nicht gesehen«, antworteten sie. »Er hat für euch doch Speise mitgenommen und ist zu euch gegangen«. »Er hat sich nach Hause zurückbegeben«, meinten sie. »Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte sein Vater. Da weinte er Tag und Nacht. »Ihr habt ihn getödtet«, sagte er. »Nein, wir haben ihn nicht getödtet«, schwuren sie ihrem Vater, aber dieser weinte immerfort.

Unterdessen kam ein Kaufmann und lagerte sich bei der Cisterne; seine Diener wollten Wasser schöpfen, Jûsef fasste aber das Brunnenseil. Die Diener berichteten dem Kaufmann, es sei jemand in der Cisterne; sie liessen ihm Stricke hinunter und Jûsef band sie sich um seine Hüften; darauf zogen sie ihn in die Höhe Und brachten ihn hinaus. Dann fragten sie ihn: »Wesshalb sitzest du in der Cisterne?« »Meine Brüder haben mich hineingeworfen«, erwiderte er. Da der Knabe schön war, nahm ihn der Kaufmann mit sich und kam mit ihm nach Egypten; auch dort blieb der Knabe bei ihm, und der Kaufmann gab ihm Kleider und gewann ihn lieb. Als der König von Egypten den Knaben erblickte, fragte er den Kaufmann: »Woher kommt dieser Junge?« »Ich habe ihn aus der Cisterne gezogen«, antwortete dieser. »Verkaufe ihn mir«, bat jener. »Wie du befiehlst, ich verkaufe[26] ihn dir«. »Stelle eine Forderung!« sagte der König. »Fünftausend Beutel«. Da kaufte ihn der König und nahm ihn in sein Haus. Bald gewann der König Jûsef sehr lieb, so dass er ihn zum Aufseher machte über sein ganzes Haus, die Schlüssel, den Schatz und über Speise und Trank. – Der König aber hatte eine Frau, deren Gleichen es nicht gab; diese verliebte sich in Jûsef; er hingegen redete nie mit ihr; jedesmal aber, wenn die Königin den Jûsef sah, sagte sie zu ihm: »Komm, schlafe bei mir«. Wenn die Königin so sprach, sagte Jûsef: »Nein«, aber er erzälte es dem König nicht. – Eines Tages ging der König aus, sich zu vergnügen, und Jûsef mit ihm. Da sprach er zu ihm: »Gehe nach Hause und hole uns Wein, damit wir fröhlich werden«. Jûsef kam nach Hause, füllte Wein in eine grosse Flasche und ging zu der Frau hinein, um aus ihrem Zimmer die Pfeife des Königs zu holen; da verschloss sie die Thüren hinter ihm, und als er fliehen wollte, schrie sie laut, fasste ihn von hinten beim Hemd, und dieses zerriss. Jûsef aber sprengte die Thüren und floh davon. Er ging zum König, sagte ihm aber nichts; sie sassen bei einander, tranken und waren vergnügt; dann kehrten sie nach Hause zurück. Da schrieb die Königin einen Brief an den König; dieser las ihn und schüttelte den Kopf. Darauf versammelte sich der Bat, und der König rief: »Jûsef!« »Ja!« »Warum hast du so gehandelt, mein Sohn?« »Habe ich gefehlt?« sagte dieser, »frage doch nach!« Da befal man der Frau, in die Versammlung zukommen, und fragte sie: »Frau, wie lautet deine Behauptung?« »Jûsef hat seine Hand nach mir ausgestreckt«. Jûsef antwortete: »Wenn ich meine Hand nach ihr ausgestreckt hätte, so würde das Hemd nicht hier zerrissen worden sein; es ist aber hier von hinten zerrissen«. Der König beschaute dasselbe und erkannte, dass jene Behauptung Lüge war; aber es ging nicht an, dass er seine Frau blosstellte; daher liess er Jûsef für sieben Jahre in's Gefängniss werfen.

Im Gefängniss war ein Fleischer und ein Bäcker; der letztere sagte einst zu Jûsef: »Mir hat geträumt, dass ich Brot herumtrüge«. »Da wird man dich herauslassen«, antwortete Jûsef; und wirklich liess man den Bäcker aus dem Gefängniss heraus. Der Fleischer aber sagte: »Jûsef!« »Ja!« »Ich habe einen Traum gehabt« »Möge er glücklich sein, wie war er denn?« »Mir träumte, dass ich Fleisch herumtrüge«, antwortete er. »Da werden sie dich tödten«, sagte Jûsef; und wirklich rief man dem Fleischer, führte ihn hinaus und richtete ihn hin. – Darauf sagte[27] der König: »Ich habe einen Traum gehabt«; aber Niemand konnte ihn ihm erklären; nur der Bäcker sprach zum König: »Jûsef versteht sich auf die Träume«. Man rief ihn also, führte ihn zum Barbier und liess ihn scheren, darauf brachte man ihn in's Bad, liess ihn sich baden, zog ihm schöne Kleider an und führte ihn zur Audienz. Der König sagte: »Jûsef!« »Ja!« »Ich habe geträumt, ich hätte viel Korn«. »O König«, sagte Jûsef, »fülle deine Scheunen, sieben Jahre hindurch kaufe Weizen; denn es wird eine Hungersnot geben«. Da kaufte der König Weizen und speicherte ihn auf in den Scheunen; den Jûsef machte er zum Oberaufseher derselben. Bald darauf starb der König, und man walte Jûsef zum König. Wie er nun König war, kam ein Jahr der Teurung über die Heimat Jûsefs; daher machten sich seine Brüder auf, bestiegen ihre Kamele und reisten nach Egypten, um Weizen zu kaufen. Als nun Jûsef vom Schloss herabkam, um ihnen Weizen zu verkaufen, erkannte er seine Brüder, sie aber erkannten ihn nicht. Da tat er seinen Becher in den Kornsack seines altern Bruders von derselben Mutter. Jene luden auf und zogen zur Stadt hinaus. Nun sandte Jûsef seine Knechte ihnen nach und liess sie zurückbringen. Sie fragten: »Was willst du? o König«. »Ihr habt meinen Becher gestolen«, sagte er. »Nein, bei Gott, das haben wir nicht getan«, antworteten sie. Da befal er: »Schüttet ihre Säcke aus, damit wir sie durchsuchen«. Man gehorchte; da ergab sich der Becher in dem Sacke seines leiblichen Bruders. Man packte diesen seinen Bruder, und jene reisten ab. Als sie nach Hause kamen, fragte ihr Vater: »Wo ist Ja'qûb?« Sie antworteten: »Er hat den Becher des Königs gestolen; daher hat man ihn festgenommen«. »Auch diesen also habt ihr mir getödtet, wie Jûsef«, rief der Vater. »Er ist beim König«, antworteten sie. Da sandte ihr Vater Botschaft an den König: »Ich flehe dich an, du mögest den Ja'qûb freilassen«. Der König aber liess ihm antworten: »Mögen sie kommen und ihr Hauswesen hierher bringen«. Da rief Jûsef dem Ja'qûb: »Ja'qûb!« »Ja!« »Ich bin Jûsef!« »Du bist Jûsef?« »Ja!« Darauf küssten sie einander und weinten. Als sie nun dasassen, kam ihre Familie und das ganze Hauswesen an den Hof Jûsefs. Sein Vater aber war davon, dass er so viel geweint hatte, erblindet. Nun ging Jûsef hinunter, ihnen entgegen. Der Vater sprach: »O Gott, das ist der Geruch Jûsef s, der mir in die Nase steigt«. Da wurden seine Augen geöffnet. Jûsef aber sagte: »Vater, ich bin Jûsef«. Sie liessen sich dort nieder; Jûsef aber war König, und seine Brüder dienten ihm.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 26-28.
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