LXXXVI.

Rätsel.

[368] 1. Ich weiss etwas, das ist schwarz und ist kein Ochse; es fliegt und ist kein Vogel; es läuft und ist kein Wolf; rate was es ist oder gib mir Damaskus, dass ich es veresse und vertrinke. Nimm dir Damaskus (antwortet der andere, welcher das Rätsel nicht lösen kann). Damaskus, ich will dich veressen und vertrinken; ich will auf eine weisse Stute steigen, die mit einem Sprung nach 'Ilôſe springt, und du sollst hungrig bleiben; warum hast du nicht gesagt: der Mistkäfer.

2. Ich weiss' ein Ding mit nacktem Kopf, mit Beinen wie die einer Fliege; es hinterlässt sechzig weniger einen. (Die Ameise; sie hinterlässt 59 Junge).

3. Ich weiss etwas, wenn es keine Speise bekommt, kann es zwanzig Tage hungern; und wenn es Speise bekommt, wird es nicht satt. (Der Wolf).

4. Ich weiss drei Wölfe; einer liegt da und steht nicht auf;[368] einer wird nicht satt, so viel er auch frisst, und einer entflieht (Die Asche, das Feuer und der Rauch).

5. Ich weiss einen Garten, der frisst die Bäume und macht sie verschwinden; man sucht sie und findet sie nicht. (Die Erde und die Menschen).

6. Ich weiss etwas, es ist ein Bret und nicht von Holz; es frisst Blätter und ist doch kein Zicklein. (Die Schildkröte).

7. Ich weiss etwas, das frisst, verrichtet aber nie ein Bedürfniss. (Der Getreidebehälter).

8. Du stiehlst deiner Mutter Brot, zermalmst es mit Knochen gibst es einem Rotkopf, und der lässt es in eine Höle hinunterfallen. (Das Brot; die Knochen sind die Zähne, der Rotkopf die Zunge).

9. Ich weiss etwas, am Tage ist Nacht für dasselbe und Nachts ist Tag für dasselbe; zu seiner Tageszeit streift es allein umher. (Die Fledermaus).

10. Ich weiss einen Mann, einen stärkeren gibt es nicht; aber er wagt nicht, zu Hause zu bleiben. (Der Löwe).

11. Ich weiss etwas, das wird schwanger; aber sein Junges kommt ihm nicht hinten heraus, sondern wenn es gebiert, kommt ihm dasselbe zum Maule heraus. (Eine Eidechsenart).

12. Ich weiss etwas, das einmal im Jahr sein Hemd auszieht und vierzig Tage lang fastet, bis es dasselbe ausgezogen hat. (Die Schlange hat vierzig Glieder und streift, so oft sie einen Tag nichts frisst, die Haut um ein Glied ab, zuerst am Maul).

13. Ich weiss etwas, die Hälfte seiner Lebenszeit ist es todt, und die Hälfte seiner Lebenszeit lebendig; wenn es stirbt, wird die Rechnung zusammengezält. (Der Mensch).

14. Ich weiss ein weisses Zimmerchen, das hat keine Thüre, darin sind zwei Soldaten; als es gebaut wurde, wurde es über den Soldaten erbaut. (Das Ei, Eiweiss und Dotter).

15. Ich weiss etwas, das ist blind; es hat weder Füsse noch Flügel und läuft doch. (Das Wasser).

16. Ich weiss etwas, das schläft nicht, weder bei Nacht noch bei Tag; wenn es sich niederlegt, so entschwindet seine Besinnung nicht, sondern es schliesst nur seine Augen. (Der Hund).

17. Ich weiss ein Zimmerchen, gebaut auf ein Holz; kein Mensch hat es gebaut, sondern die Erde hat es gebaut, es entstehen in ihm Soldaten. (Die Aehre).

18. Ich weiss etwas, das stirbt nicht und altert nicht: wenn man für dasselbe sorgt, wird es jedes Jahr wieder jung. (Der Weinberg).[369]

19. Ich weiss etwas; es dauert zehn Tage, bis es sein Haus gemacht hat mit seiner Frau; sie bekommen einen Sohn und zwei Töchter, aber eine Tochter stirbt; Gott will es so. (Die Fliege).

20. Ich weiss etwas, das bekommt ein Junges, welches an der Mutter saugt: es vergeht ein Jahr und am Ende des Jahres bespringt es seine Mutter. (Kalb und Kuh).

21. Ich weiss etwas, das ist blind obwol mit offenen Augen; es steckt sein Hinterteil in den Boden und stirbt: wenn ein Jahr um ist, kommen zwei und vierzig Kügelchen heraus an der Stelle, wo es sein Hinterteil hingesteckt hat. (Die Heuschrecke).

22. Ich weiss etwas, das schwimmt Tag und Nacht zwischen Himmel und Erde, du kannst die Knochen seines Körpers nicht zählen; wenn man es fängt, schlägt man es nicht und schlachtet es nicht, es stirbt von selber; erst wenn es gestorben ist, schlachtet man es. (Der Fisch).

23. Ich weiss etwas, das geht nie auf einem Wege und hat keine Flügel, aber die Menschen machen es fliegen; es ist blind und hat weder Fleisch noch Knochen an seinem Körper. (Der Stein).

24. Ich weiss etwas, es gibt nichts plumperes und nichts hässlicheres als dies; sowol der Mann als die Frau verdrehen ihr Maul und schielen mit den Augen; sie begatten sich mit einander zugekehrten Hintern. (Das Kamel).

25. Ich weiss etwas, das kommt zu seiner Frau und steckt seinen Mund in den Mund seiner Frau: dann verbirgt es sich zwei Monate, ohne dass die Frau es sieht. Darauf legt die Frau elf Eier und brütet die Jungen aus; nun kommt der Mann nach Hause, denn er kennt den Tag, an welchem sie die Jungen ausbrütet. (Das Rebhuhn).

26. Ich weiss etwas, das alle drei Jahre sich mit seinem Weibchen begattet, und an dem Tage, an welchem es sich paart, gebiert auch das Weibchen: an einem Tage begattet er sich und an demselben Tage gebiert sie und an eben demselben Tage läuft das Junge schon. (Der Leopard).

27. Ich weiss etwas, das bringt jedes Jahr zweimal Junge zur Welt. (Der Kornwurm Abu 'Alî).

28. Ich weiss etwas, das nicht lacht und nicht singt; aber wenn man es anbläst, tanzt es. (Das Wasser der Nargîle).

29. Ich weiss etwas: für Geld habe ich's in's Haus gebracht, gesättigt geht es aus dem Hause; wenn es aber nach Hause zurückkehrt, wird es hungrig, wie geht das zu? (Der Schuh).[370]

30. Ich weiss etwas, das begräbt man und zieht es gesund wieder heraus: dann schlägt man es und tödtet es; man kommt und benetzt es, drückt es und kocht es am Feuer. (Der Weizen).

31. Ich weiss etwas, das nicht isst und nicht trinkt: dem Auge des Menschen ist es unangenehm; ich weiss nicht, wovon es lebt, aber es gebiert ohne Mann. (Die Laus).

32. Ich weiss etwas, das legt zwei Eier; dann kommt das Männchen und beschaut die Eier. Er unterscheidet, in welchem Ei ein Männchen und in welchem ein Weibchen ist; das männliche Junge wird zu erst ausgebrütet und das weibliche nachher. (Die Taube).

33. Ich weiss etwas, das legt fünf Eier und bleibt auf ihnen vier Tage sitzen: dann nimmt es ein Ei weg und wirft es hinaus. Hierauf kommt es und brütet die Jungen aus den vier Eiern aus; wenn es nicht ein Ei wegwirft, kommen keine Jungen zum Vorschein. (Das Erdhuhn).

34. Ich weiss etwas, das baut sich sein Haus an einem Orte und nimmt es von da wieder fort, setzt es an einen andern Ort, nimmt es wieder fort und setzt es wieder an einen andern Ort: dreimal versetzt es dasselbe; dann legt es Eier, und die Eier gehen verloren, die Elfen tragen sie weg. (Der Falke).

35. Ich weiss etwas, das geht eine Spanne weit in die Erde hinein und kann sich eine Spanne über die Erde erheben; es hat weder Flügel noch einen Schwanz. (Ein Insect).

36. Ich weiss etwas, das ist zwischen Himmel und Erde, seine Haut ist aus einem Stück: es ist ein Arzt; man tödtet es und nimmt das, was in seinem Bauche ist, heraus und isst es. (Der Granatapfel).

37. Ich weiss etwas zwischen zwei Bergen: Nachts fällt ein Berg auf dasselbe, und der andere legt sich darunter; Gott beschützt es, dass es nicht von den Bergen zerquetscht wird. Sein Kopf schaut nach unten, seine Beine nach oben; es schwebt zwischen Himmel und Erde. (Das männliche Glied).

38. Ich weiss etwas, das ist ungefähr einen Finger lang: man weiss nicht, was sein Kopf ist, noch was seine Füsse sind; es harnt aus seinem Rücken. – (Die bunte Raupe, vielleicht die des kleinen Nachtpfauenauges).

39. Ich weiss etwas, sein Kopf ist grösser als sein Hinterteil, an seinem Rücken kann es umgebogen werden; es trägt etwas, das grösser ist als es selbst, und bringt es nach Hause: leer geht's hinaus und beladen kehrt's heim. (Die Ameise).[371]

40. Ich weiss etwas rundes und weiss etwas langes; das lange sprach zum runden: »Ich bin süss«, aber das runde sagte zum langen: »Nach dir suchen die Hühner nicht; aber mir fragen die Hühner nach.« Da spaltete sich das lange vor Zorn. (Mais- und Weizenkorn).

41. Ein Mann holte gegen einen andern aus, da fragte ihn dieser: »Warum hast du gegen mich ausgeholt?« »Darum.« »Durch das Ausholen hast du mir einen Centner weggenommen.« »Aber du hast keinen Centner an dir!« »Jeder nach seiner Wage und nach seinem Gewichte.« (Der Sperling).

42. Es war einmal ein Mann, der erblickte einen Floh. »Wohin willst du mich tragen?« fragte ihn der Floh. »Ich will dich wägen«, sagte jener. »Wie viel Pfund bin ich schwer?« fragte der Floh. »Ein Quentchen«, sagte der Mann. »Nein«, behauptete der Floh, »ich wiege zehn Pfund.« Da ging jener hin und wog ihn beim Wagemeister; es ergab sich ein halbes Quentchen. »Habe ich's dir nicht gesagt, du wiegst ein halbes Quentchen?« »Du musst mich nicht hier wägen«, versetzte jener. »Aber wo denn?« »In unserm Lande.« Darauf wog er ihn in ihrem Lande, und es ergaben sich zehn Pfund. »Siehst du, Mann«, sagte der Floh, »ich habe nicht gelogen.«

43. Es ging einmal ein Mann in ein Haus, und die Leute forderten ihn auf, ihnen etwas zu erzälen. Er sagte: »Zu meinem Vater kam der Todesengel, um seine Seele zu holen; da hat mein Vater den Todesengel getödtet.« »Genug! du lügst!« riefen jene. »So geht und fragt meine Mutter, wenn ihr mir nicht glaubt.« »Wo ist deine Mutter?« fragten sie. »Zu Hause«, antwortete er. Da gingen sie hin, um es seiner Mutter zu sagen; aber die Mutter war stumm. »Sie ist ja stumm«, sagten sie zu ihm. »Ja, was soll ich denn da tun?« antwortete er, »sie ist erst stumm geworden, nachdem ich von ihr weggegangen bin.«

44. Einmal sagte Jemand in der Versammlung: »Ich will euch etwas erzälen.« »Rede.« »Einer fing eine Mücke und schlachtete sie; da ergaben sich an ihr fünfhundert Pfund Fleisch und sechs Pfund Fett.« »Genug! du lügst!« riefen jene. »Geht und erkundigt euch bei meinem Vater!« sagte er. »Wo ist denn dein Vater?« »Im Grab«, versetzte jener.

45. Einmal kam Jemand aus dem Ssindschârgebirge als Gast in ein Haus; die Bewohner desselben hatten einen Hirten, und als dieser am Abend nach Hause kam, erzälte er: »Der Wolf hat zwanzig Ziegen gefressen.« Da sagte der Gast: »Bei uns fressen die Ziegen die Wölfe.« »Wunderbar«, riefen sie.[372]

46. Es war einmal eine Maus, die fürchtete sich vor der Katze; da erblickten sie zwei Menschen, und der eine von ihnen sagte: »Es wird eine Zeit kommen, wo sich die Katze vor der Maus fürchtet« »Wunderbar«, versetzte der andere.

47. Es war einmal einer, der sagte zum Wolf: »Unsere Zeit ist nicht schön!« »Nein«, antwortete der Wolf, »diese Zeit ist schön: es kommt aber eine Zeit, die ist noch schlechter als diese; dann wird der Pfaffe Dorfschulze und der Diakon Marktaufseher; jene Zeit wird schlecht sein.«

48. Einer sagte zum andern: »Der Elefant lässt sich nicht fangen.« Da antwortete der andere: »Es wird eine Zeit kommen, wo sich der Elefant fangen und vor den Pflug spannen lässt; dann wird aber der Ochse ein Elefant und lässt sich nicht fangen.«

49. Einer sagte zum andern: »Dieses Jahr ist uns kein Korn gewachsen; das vorige Jahr ist uns mehr gewachsen und das vorvorige Jahr noch mehr: woher kommt das?« »Das kommt von Gott«, antwortete der andere.

50. Es war einmal ein Armer, der hatte kein Brot, sich satt zu essen, und war den Schlägen der Leute ausgesetzt; doch war er geduldig und harrte auf Gott, da wurde er König über Urîa durch Gottes Fügung: so geht's dem Ausharrenden. Der Geduldige und der König von Aegypten sind Herren über die ganze Erde; Geduld kommt von der Gnade Gottes und Ungeduld vom Teufel: etwas Rechtes wird nicht in Eile vollbracht.

51. Im Monat Februar sagte ein Hirte: »Der Februar ist zu Ende; ich fürchte mich nicht vor ihm, denn es kommt kein Regen mehr«. Da sprach der Februar zum März: »März, borge mir zwei Tage, damit ich frieren lasse«. Er borgte ihm zwei Tage, und jener liess es heftig frieren, so dass die Ziegen erfroren. Seitdem sagt man [von den beiden ersten Märztagen]: »Das Anlehen des Februar«.

Quelle:
Prym, E./Socin, A.: Syrische Sagen und Märchen aus dem Volksmunde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprechts Verlag, 1881, S. 368-373.
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