11.

[38] Es war einmal ein reicher Kaufmann, der hatte nur einen Sohn. Als er nun alt geworden war, wurde er krank und wollte sterben. Da sagte er: »Mein Sohn, es ist viel Vermögen und viel Geld vorhanden; das Geld sollst du teilen, eine Hälfte für dich, und die andere Hälfte verteile unter die Armen und Dürftigen.« »Jawohl, mein Vater,« erwiderte er. Als der Vater gestorben war, teilte der Sohn das Geld, nahm die eine Hälfte für sich, und die andere wollte er verteilen. Er fing an auszuteilen; die Leute kamen zu ihm, und er gab ihnen Geld. So verbreitete sich sein Ruf in der Stadt; es hieß: der und der teilt unter die Armen und Dürftigen Geld aus. Wenn jemand zu ihm kam, so fragte er ihn, wie viele Kinder er habe, und bestimmte dann nach der Anzahl der Kinder, wie viel jeder bekommen sollte. Kam eine Frau, so fragte er sie, ob sie einen Mann habe oder nicht, und gab derjenigen, welche[38] keinen hatte, mehr als derjenigen, welche einen hatte. So gab er einem jeden nach seinem Bedürfnis.

Nun war da eine namens Schicha Machsäntscha, die sagte zu ihrer Nachbarin: »Da ist einer, der teilt Geld aus; komm, laß uns zu ihm gehn.« »Ja, komm,« sagte sie, und so begaben sie sich zusammen zu ihm. Nachdem sie ihr Gesicht bedeckt hatten, gingen sie zur Türe hinein; eine von ihnen fragte: »Bist du es, der Almosen austeilt?« Als er dies bejaht hatte, bat sie: »So gib auch uns.« Er zählte ihnen Geld hin, jeder 290 Piaster, gab sie ihnen, und die beiden gingen wieder weg. Als sie ein wenig von der Haustür entfernt waren, setzte sich Schicha Machsäntscha auf die Erde und zählte das Geld. Es ergab sich für jede 290 Piaster. Da sagte sie zur Nachbarin: »Gib her, ich will sie ihm zurückbringen; kann er nicht die 300 Piaster voll machen? Ist das ein Geschenk für reiche Leute?« Sie nahm der Nachbarin das Geld ab, ging an die Haustüre und warf sie ihm hin, indem sie sagte: »Da, nimm, wenn du nicht gering wärest, so hättest du uns nicht zu gering gegeben.« Da rief er ihr zu: »Komm, ich will dir etwas sagen; komm, laß uns sehen, was du wünschest; komm, laß uns sehen, was du bedarfst; komm, sprich mit mir und sieh zu, was du willst, ich gebe es dir!« Sie aber antwortete ihm nicht, sondern ging nach Hause. Da befahl er einem, der bei ihm war, er möchte sehen gehn, wo ihr Haus sei. Jener folgte ihr; sie trat in ihr Haus und verriegelte die Türe. Da machte er ein Zeichen an die Türe und ging zu dem Kaufmannssohne zurück. Der fragte ihn: »Hast du ihr Haus gemerkt?« »Ich habe es gemerkt.« »Und hast du ein Zeichen daran gemacht?« »Ja, ich habe es bezeichnet.« Da machte er sich auf, ging zu ihr hin und klopfte an die Türe: sie aber wollte ihm nicht öffnen. Er kehrte nach Hause zurück und dachte: »Am Abend will ich wieder hingehn.« Am Abend ging er hin, klopfte an die Türe; aber niemand antwortete ihm. Da ging er wieder nach Hause und dachte: »Am Morgen will ich hingehn.« Am Morgen ging er hin und klopfte an die Türe, bis er zu klopfen müde wurde; aber niemand öffnete ihm. Da dachte er: »Ich will zum Sultan gehn und sehen, ob er vielleicht Rat weiß.« Er ging also zum Sultan, trat in den Audienzsaal ein, und als der Sultan ihn fragte: »Was ist dir, Mann, trage deine Sache vor, was dir widerfahren ist!«, erwiderte er: »Was mir widerfahren ist – da ist einer, der fürchtet sich weder vor dir noch vor Gott.« »Wehe dir,« versetzte der Sultan, »es soll Leute geben, die sich vor mir nicht fürchten?« »Es gibt solche,« wiederholte er, »die sich nicht vor dir fürchten.« Da befahl der Sultan: »Bringt ihn ins Gefängnis; es soll Leute geben, die mich nicht fürchten?« Sie führten ihn also ins Gefängnis, und er brachte die Nacht dort zu. Am andern Morgen stand der Sultan zornig auf und befahl: »Bringt diesen Halunken her, der gesagt hat, es gebe Leute, die sich nicht vor mir fürchten; bringt ihn her, wir wollen sehen, was er heute[39] sagt; vielleicht war er gestern betrunken.« Sie holten ihn aus dem Gefängnis, und als er eingetreten war, fragte der Sultan gleich: »Wehe dir, mit wem hast du zu tun?« »Mit einem, der sich weder vor dir noch vor Gott fürchtet,« erwiderte er. »Was,« rief der Sultan, »du sagst mir noch einmal, es gebe Leute, die sich nicht vor mir fürchten?« »Ich sage es dir.« Darauf ließ er ihn wieder ins Gefängnis bringen.

Am andern Morgen in der Frühe befahl er, ihn vorzuführen, und als dies geschehen war, sagte er: »Geht, schlagt ihm den Kopf ab!« Jedoch der Minister wandte ein: »Aber, o Sultan, frage ihn doch, wer denn der ist, der sich nicht vor dir fürchtet, ehe du ihm den Kopf abschlagen lassest.« »Gut,« sagte der Sultan, »so bringt ihn wieder her.« Darauf fragte er den Mann: »Wer ist denn dieser, der sich nicht vor mir fürchtet?« »Die Liebe,« erwiderte er; »es braucht sich einer nur zu verlieben, so fürchtet er sich weder vor dir noch vor Gott; sie wirft den Menschen in die Hölle, er fürchtet sich weder vor dir noch vor Gott.« »Wie kam es denn,« fragte der Sultan, »daß dich diese Sache getroffen hat?« Er antwortete: »Mein Vater war Kaufmann, und als sein Ende herannahte und er sterben wollte, sagte er: ›Mein Sohn, es ist Vermögen und Geld in Menge vorhanden, teile es mit den Armen;‹ und, o Herr, als nun mein Vater gestorben war, da teilte ich das Geld in zwei Hälften, die eine für mich und die andere für die Armen und Dürftigen. Alle Leute nun, welche kamen und Geld empfingen, haben mir nichts gesagt; aber da kamen zwei Frauenzimmer zu mir, denen gab ich auch, und sie gingen hinaus, gleich darauf aber kamen sie zurück, blieben in der Türe stehn, warfen mir das, was ich ihnen gegeben hatte, hin und sagten: ›Nimm, du bist gering und hast uns gering gegeben.‹ Ich folgte ihnen und rief: ›Kommt, laßt uns sehen, was ihr wünschet, so will ich es euch geben;‹ aber sie gaben mir keine Antwort.« Da fragte der Sultan: »Und kennst du ihr Haus?« »Ja, ich kenne es; schicke Gensdarmen mit mir, so will ich ihnen ihr Haus zeigen.« Er gab ihm zwei Gensdarmen mit, denen er das Haus zeigte. Als sie zum Sultan zurückkamen, fragte dieser die Gensdarmen: »Mit wem hat dieser Mann zu tun?« »Mit der Schicha Machsäntscha,« berichteten sie. »Ist sie diejenige,« fragte der Sultan, »welche zu dir gesagt hat: ›Du bist gering und hast gering gegeben?‹« »Jawohl,« versetzte er, »und als sie es zu mir sagte, da verliebte ich mich in sie; nur dieses Wort hat sie zu mir gesagt, und bis jetzt hat sie mir nicht weiter geantwortet.« Da sagte der Sultan: »Mein Sohn, dieses Mädchens Vater ist gefangen im Zwinger von Damaskus, und es gehen viele Freier zu ihr, sie aber schwört, sie werde keinen freien, wenn nicht ihr Vater herauskomme aus dem Zwinger von Damaskus.« »So halte du für mich bei ihr an,« bat der junge Mann, »und laß dich ihren Vater nicht kümmern.« Da schrieb der Sultan ihr einen Brief und schickte ihn ihr durch drei Reiter. Sie[40] schrieb die Antwort und schickte sie ihm: »Beim Haupte meines Vaters, ich kann nicht ja sagen, wenn nicht der Sultan in eigener Person zu mir kommt.« Als der Sultan den Brief gelesen hatte, fragte der Minister, was sie geschrieben habe. »Sie schwört,« sagte er, »beim Haupte ihres Vaters, sie könne nicht ja sagen, es sei denn, daß ich zu ihr komme.« Darauf stieg der Sultan zu Pferde und begab sich zu ihr. »Schicha Machsäntscha,« sagte er, »du schwörst beim Haupte deines Vaters, du wollest nicht ja sagen, wenn ich nicht zu dir komme.« »O Herr,« erwiderte sie, »Gott möge dein Leben verlängern, du hast mir einen eigenhändigen Brief geschrieben, und ich will deine Majestät nicht abweisen; deshalb wünsche ich, daß du zu mir kommst, damit ich es dir erzählen und es dir sagen kann; weißt du nicht, daß ich keine Werbung annehme und keine Heirat eingehe, wenn nicht mein Vater frei kommt von dem Zwinger von Damaskus?« »Das habe ich dem Manne gesagt,« versetzte er, »nimm ihn also nicht, es sei denn, daß er ihn befreie.« »Gut,« sagte sie, »dann weise ich deine Majestät nicht ab.« Darauf ging der Sultan zu dem Mann, und dieser fragte: »Was hat sie dir gesagt?« Er antwortete: »Wenn du ihren Vater befreist, so nimmt sie dich.« »Gut,« sagte er und begab sich nach Damaskus.

Dort fragte er: »Wo ist der Zwinger von Damaskus?« Da sagte ihm ein Mann in mittleren Jahren: »Mein Sohn, was hast du mit ihm zu tun, daß du nach ihm fragst?« Er antwortete: »Aber, was (wer) ist er?« »Mein Sohn,« sagte er, »in der Frühe des Tages kommt ein Mohr heraus in die Ebene der Sinanije und ruft: ›Ritter nach Ritter bis zu hundert Rittern mögen in die Bahn kommen zu dem Ritter!‹ Dann kommen zu ihm in die Bahn die Ritter, und er besiegt sie und setzt sie gefangen; ein Jahr schon treibt er es so, und keiner vermag etwas über ihn. Komm, ich will dich zu den Leuten führen, welche der Mohr gefangen gesetzt hat.« So erzählte der Mann dem Jüngling; der aber bat ihn, ihm den Ort des Turnierspiels zu zeigen. Er führte ihn also dorthin. Kaum war es Morgen geworden, so erschien der Mohr von weitem, und die Leute, die in den Läden saßen, sagten: »Der Ritter ist gekommen.« Der Jüngling aber setzte sich zur Seite. Der Mohr machte in der Bahn halt und rief: »Ritter nach Ritter bis zu hundert Rittern mögen in die Bahn kommen zu dem Ritter!« Da ritt einer zu ihm in die Bahn und kämpfte mit ihm, jedoch vermochte er nichts über ihn, sondern der Mohr besiegte ihn und nahm ihn gefangen und ging weg. Als der junge Mann alles dieses gesehen hatte, erhob er sich und ging nach Haus.

Am folgenden Tage stieg der junge Mann zu Pferde und legte seine Waffen an, ritt hin und stieg auf dem Turnierplatze ab. In der Frühe des Tages kam der Mohr, machte in der Mitte des Platzes halt und rief: »Ritter nach Ritter bis zu hundert Rittern mögen in die Bahn kommen zu dem Ritter!« Da bestieg der junge[41] Mann sein Roß und ritt in die Bahn, um zu kämpfen. Sie kämpften bis zum Mittag; da siegte der Jüngling, warf den Mohren hin und wollte ihn töten. »Töte mich nicht,« rief er, »ich bin ein Mädchen!« »Du bist ein Mädchen,« fragte er, »und nimmst alle diese Leute gefangen?« »Folge mir nach Haus,« erwiderte sie, »und siehe, ob ich ein Mädchen bin oder ein Mann.« Da folgte er ihr nach Haus. Als sie dort hingekommen war, zog sie die Männerkleidung aus, wusch sich und legte Weiberkleidung an, und kam so zu ihm heraus. »Aber weshalb,« sagte er, »handelt ein Mädchen so?« »Ich nehme Tinte,« sagte sie, »und färbe mein Gesicht und meine. Hände und Füße und mache mich zu einem Neger.« »Aber weswegen tust du so?« »Ich,« antwortete sie, »suche einen Mann, der stärker ist als ich; den will ich nehmen. [Du bist stärker als ich,] du bist für mich und ich bin für dich.« »Für mich,« sagte er, »hat der Sultan mit Schicha Machsäntscha gesprochen, daß sie mich nehmen soll. Und sie hat geschworen, keine Werbung anzunehmen, wenn ihr Vater nicht aus dem Gefängnis herauskäme. Ist nun der Vater des Schicha Machsäntscha unter den Gefangenen, welche du in diesem Zwinger, den du gemacht hast, gefangen gesetzt hast?« Als sie dies bejaht hatte, fuhr er fort: »Es ist Bedingung, daß ich ihn befreie und daß Schicha Machsäntscha meine Werbung annimmt.« Da sagte sie: »Heirate doch uns beide, mich und sie!« Darauf begab er sich in das Gefängnis, ließ die Gefangenen alle heraus und unter ihnen auch den Vater der Schicha Machsäntscha. Dann kehrte er zum Sultan zurück und sagte ihm: »O Herr! ich habe den Zwinger von Damaskus gebrochen.« »Heil dir!« erwiderte der Sultan, nahm tausend Piaster heraus und gab sie ihm zum Geschenk. Der Jüngling blieb noch eine Zeit lang bei dem Sultan sitzen und sagte ihm: »O Herr! dieser Zwinger, welcher in Damaskus war und durch welchen (in welchem) alle diese Leute gefangen saßen, und der Mohr, vor dem sie sich fürchteten, war ein Mädchen.« »Woher weißt du, daß es ein Mädchen war?« fragte der Sultan. Er antwortete: »Ich warf den Mohren hin und wollte ihn töten; da sagte er zu mir: ›Töte mich nicht, ich bin ein Mädchen!‹ Ich sagte: ›Warum handelt ein Mädchen so?‹ Er sagte: ›Komm mit mir nach Haus.‹« Da fragte der Sultan: »Ein Negermädchen oder eine Weiße?« »Eine Weiße!« antwortete er. »Aber warum war denn eine Weiße so schwarz?« »O Herr!« erwiderte er, »sie nimmt Tinte und färbt sich Gesicht, Hände und Füße und macht sich zu einem Mohren«. »Hast du sie denn nicht gefragt, weshalb sie so tut?« »Ich habe sie gefragt, weshalb sie das tut.« [»Was hat sie dir gesagt?«] »Sie sagte mir, sie wolle nur einen Mann, der stärker sei als sie, nehmen, und sagte mir: ›Du bist für mich und ich bin für dich.‹ Da sagte ich ihr: ›Der Sultan hat für mich die Schicha Machsäntscha gefreit.‹ Da sagte sie: ›Wir alle beide wollen dich heiraten.‹ Nun, o Herr, wie Du willst.« Der Sultan erwiderte: »Ich will, daß sie[42] dir beide gehören sollen.« Darauf ließ er die beiden kommen, betete über ihnen und verheiratete sie alle beide mit ihm; [zur einen ging er die erste Nacht, und zur andern die zweite Nacht.] Und so lebten sie weiter, und die Geschichte ist zu Ende. – [Gott erhalte deinen Mund.1]

1

[Formel des Dankes für die Erzählung].

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 38-43.
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