2.

[2] Es war einmal eine Frau, die hatte keine Kinder; aber nach einiger Zeit ging eines Tages ein Arzt im Dorfe umher und bot eine Arznei an, durch die man guter Hoffnung werden könne. Da kam die Frau heraus und bat den Arzt, ihr das Mittel zu geben. Er tat dies, gab ihr jedoch den Rat, es nicht eher einzunehmen, als bis sie ein Bad genommen hätte. Sie legte das Mittel in die Wandnische und ging ins Bad. Unterdessen kam ihr Mann nach Hause und aß es auf. Als sie nun aus dem Bade zurückkam, fragte sie gleich: »Wo ist das Mittel, welches in der Wandnische war?« »Ich habe es gegessen,« erwiderte der Mann. »Iihihi!« rief sie, »morgen1 wirst du schwanger werden.« In der Tat wurde der Mann schwanger und zwar an seiner Hüfte, und nachdem neun Monate vergangen waren, sagte die Frau zu ihm: »Die Leute spotten allenthalben über dich, Mann, und sagen: ›Wird denn ein Mann schwanger?!‹ Jedoch mach dich auf und geh aufs Feld, dort schneide deine Hüfte auf und zieh das Kind heraus.« Der Mann[2] ging also aufs Feld, indem er ein Messer mitnahm, und als er dorthin gekommen war, schnitt er mit dem Messer seine Hüfte auf. Ein kleines Mädchen kam zur Welt, das ließ er dort im freien Felde, indem er selbst nach Hause ging.

Aber die Gazellen pflegten zu kommen, das Mädchen zu säugen, und gingen wieder weg und ließen es allein im Felde. So taten sie, bis es herangewachsen war. Da kamen eines Tages der Sohn des Sultans und der Sohn des Ministers, um zu jagen. Der Prinz ging vorauf und fand das Mädchen. Alsbald sagte er zum Sohne des Ministers: »All unsere Jagdbeute soll dein sein, aber diese hier ist für mich.« Damit nahm er sie an sich und versteckte sie unter seinem Rock. Zu Hause bat er seine Mutter, sie möchte ihm das Mädchen erziehen, und als jene ihn fragte, woher er es habe, antwortete er: »Ich habe sie auf dem Felde gefunden, du sollst sie mir gut erziehen, ich will sie später zur Frau nehmen, freien.« Die Mutter sagte ihm dies zu. – Darauf wollte der Prinz auf die Wallfahrt gehen, da empfahl er seiner Mutter an, sie möchte auf das Mädchen gut Acht haben, es nicht hungern und nicht unbekleidet lassen, vielmehr möchte sie ihm Kleider anfertigen lassen. Sie versprach dies, und der Prinz begab sich auf die Wallfahrt. Als aber die Zeit herannahte, daß er zurückkehren sollte, nahm die Mutter das Mädchen mit an den Fluß und setzte sich dort mit ihr zusammen an den Rand des Wassers. Darauf warf sie ihr Tüchlein mitten in den Fluß und befahl dem Mädchen, es wieder aus dem Wasser herauszufischen. Das Mädchen bog sich nach vorn und streckte seine Hand in den Fluß, um das Tüchlein zu ergreifen und aus dem Wasser herauszuziehen. Aber die Mutter des Prinzen, welche neben ihr saß, erhob ihre Hand und stieß sie mitten in das Wasser hinein. Das Wasser führte das Mädchen mit sich fort, die Mutter überließ es seinem Schicksal und ging nach Hause.

Das Wasser führte also das Mädchen mit sieh fort, aber bald fand es inmitten desselben einen Baum, den umklammerte es mit den Händen, darauf stieg es aus dem Wasser hinaus und setzte sich in die Sonne. Nicht lange dauerte es, da kam eine, die rief: »Ich bitte dich, verbirg mich.« »Wo soll ich dich denn verbergen?« fragte das Mädchen. »Wo immer du willst, und wenn einer kommt, der nach mir fragt, so sage ihm, du habest mich nicht gesehen, dann werde ich dich reich machen.« Das Mädchen verbarg jene; bald kam auch einer, der nach jener fragte, welche das Mädchen gebeten hatte, sie zu verbergen. Als das Mädchen nun antwortete, es habe sie nicht gesehen, da barst er vor Wut. Das Mädchen aber hob einen Stein auf und zerschlug ihm damit den Kopf. Darauf kam jene, welche verborgen war, heraus und fragte: »Hast du ihm den Kopf zerschlagen?« »Ja freilich,« erwiderte das Mädchen. »So verlange von mir, was du auch immer magst.« »Ich wünsche,« versetzte das Mädchen, »daß du mir Sklaven und Diener verschaffest und ein Schloß oberhalb des Schlosses des Prinzen.« »So schließe[3] deine Augen und öffne sie wieder,« befahl jene. Das Mädchen schloß die Äugen. Als sie sie wieder öffnete, fand sie sich von Dienern umgeben, und sie hatte ein Schloß oberhalb des Schlosses des Prinzen, und eine Weinlaube und Trauben das ganze Jahr hindurch2.

Als die Leute von der Wallfahrt zurückkehrten, ging jene Frau, die Mutter des Prinzen, in den Hof, nahm ein Schaf und schlachtete es. Darauf grub sie in dem Hofe eine Grube, begrub darin das Schaf und baute ein Grab darüber. Als dann der Prinz von der Wallfahrt kam und in den Hof trat, legte sie schöne Kleider an und tat so, als ob sie jenes Mädchen wäre, welches der Prinz gefunden hatte. »Wer bist du?« fragte sie der Prinz. »Ich bin das Mädchen, welches du gefunden hast.« »Wo ist denn meine Mutter?« »Sie ist gestorben.« »Hast du sie begraben?« »Ich hatte nicht das Herz, sie draußen zu begraben, da habe ich im Hofe ein Grab gegraben und sie dort begraben; komm, ich will dir den Ort zeigen, wo ich sie begrub.« Damit führte sie ihn an den Ort, wo sie das Schaf vergraben hatte, und sagte: »Hier habe ich deine Mutter begraben.« Und das war Lüge; seine Mutter hatte eine Intrige gegen ihn ins Werk gesetzt, infolgedessen er sie für das Mädchen hielt, welches er gefunden hatte. Darauf ließ er den Geistlichen kommen, und nachdem dieser sie eingesegnet hatte, heiratete er jene, seine Mutter, von welcher er meinte, daß sie das von ihm gefundene Mädchen wäre. – »Wir haben ja Nachbarn bekommen,« sagte er, als er das Schloß erblickte, das jenes Mädchen, welches seine Mutter ins Wasser gestoßen hatte, sich oberhalb seines eigenen Schlosses hatte bauen lassen.

Darauf wurde die Frau des Prinzen guter Hoffnung, und da es bei ihrer neuen Nachbarin Trauben gab, so schickte sie eine Sklavin – sie hatte eine Menge Sklaven und Sklavinnen – zu dieser, indem sie ihr auftrug: »Geh zu meiner Nachbarin und sage ihr: gib meiner Herrin eine Weintraube.« Aber das Mädchen schnitt der Sklavin die Zunge ab, so daß sie stumm zu ihrer Herrin zurückkehrte; ihre Zunge war abgeschnitten, und sie konnte nicht sprechen. Zum andernmal schickte sie eine Sklavin, aber auch dieser schnitt jene die Zunge ab, so daß sie nicht mehr zu sprechen vermochte. Auch mit der folgenden, welche sie schickte, verfuhr sie ebenso, wie mit jenen, so daß es nun drei waren. Die Frau schickte aber immer weiter Sklavinnen, bis es zehn wurden. Ihnen allen schnitt sie die Zunge ab. Jene schickte die Sklavinnen, damit sie für sie um Trauben bäten, das Mädchen aber schnitt allen zehn Sklavinnen die Zunge ab, und sie kamen mit abgeschnittenen Zungen zu ihrer Herrin zurück und konnten nicht sprechen. Schließlich fragte der Prinz seine Frau, ob sie denn nicht ein einziges Mal selbst zu der Nachbarin gegangen sei, und als sie dies verneinte, sagte er: »So[4] geh' doch zu ihr, begrüße sie und bleibe ein wenig bei ihr sitzen; dann wird sie dir wohl einen Teller Trauben vorsetzen, denn sie hat Trauben dort, obgleich es Winter ist, das ganze Jahr.« »So laß uns zusammen zu ihr hinaufgehen,« versetzte die Frau. Sie gingen also zusammen zu ihrer Nachbarin und nahmen auf dem Sofa Platz. Diese legte ihnen zwei Kissen in den Rücken, dann ließ sie ihnen eine Wasserpfeife zurechtmachen und den Kopf derselben füllen. Auch eine zweite ließ sie ihnen zurechtmachen, schließlich eine dritte, und noch immer warteten sie, daß sie ihnen Trauben vorsetzen möchte, aber sie setzte ihnen keine vor. Endlich gab die Frau ihrem Manne einen Wink, er möchte aufstehen, sie wollten gehen. Da sagte das Mädchen: »Klebe, Kissen, an ihrem Rücken und laß nicht zu, daß sie aufsteht und ihre Nachbarin verläßt.« Wie sie sich nun anschickte aufzustehen, da klebte ihr Rücken an dem Kissen fest, und sie blieb sitzen. Nun wandte sich der Prinz zu der Nachbarin und sagte: »Deiner Nachbarin ist in den Sinn gekommen, sie möchte einen Teller Trauben von dir haben.« »Ja, wahrhaftig,« versetzte nun das Mädchen, »meine Mutter wünschte mich, und mein Vater ging schwanger mit mir, und ins Feld brachte er mich, und die Gazellen kamen mich säugen, des Sultans Sohn fand mich und unter der Schleppe seines Rockes verbarg er mich; seine Mutter ist guter Hoffnung von ihm, und ich soll ihr Trauben geben als mein Geschenk?!« Der Prinz verstand sie, aber er fragte: »Was soll das bedeuten, Nachbarin, was du da redest?« »Aber was denkst du denn?« erwiderte sie; »Das ist deine Mutter, und nicht das Mädchen, welches du gefunden hattest.« »Aber wo ist denn das Mädchen, welches ich gefunden habe?« »Das bin ich.« »Und meine Mutter?« »Ist diese, welche sich stellt, als ob sie das Mädchen wäre, und die du zur Frau genommen hast; das Mädchen, welches du gefunden hast, bin ich.« »Aber wer hat dich hierher gebracht?« fragte der Prinz. »Deine Mutter nahm mich mit ans Wasser und ließ mich am Ufer sitzen, darauf warf sie ihr Tüchlein mitten in das Wasser und befahl mir, es aus demselben herauszuholen; als ich aber nach ihm langte, um es aus dem Wasser zu ziehen, da stieß sie mich ins Wasser, und das Wasser nahm mich mit sich fort, bis ich in ihm einen Baum antraf, an den ich mich mit meinen Händen anklammerte, so daß ich aus dem Wasser hinausgehn konnte; und so ließ Gott mich aus ihm herausgehn.« Nachdem das Mädchen dem Prinzen erzählt hatte, was seine Mutter an ihr verübt hatte, ließ er in seiner Residenz ausrufen: »Wer den Sohn des Sultans liebt, der bringe Brennholz und Feuer.« Da brachten die Einwohner der Stadt ihm Holz und Feuer, und er zündete es an und setzte seine Mutter mitten in das Feuer. Darauf ließ er das Mädchen kommen, hielt um seine Hand an und ließ den Geistlichen holen; der traute ihm das Mädchen an, und so heiratete er es, und sie lebten vergnügt zusammen, und nun ist die Geschichte aus.

1

[demnächst].

2

oder: die dem Wechsel der Jahreszeiten nicht unterworfen waren. – [außer der Zeit].

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 2-5.
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