5.

[13] Es war einmal einer, der hatte drei Söhne und war sehr reich. Er verheiratete den ältesten Sohn, und der bekam Kinder. Darauf verheiratete er auch den zweiten Sohn, und es blieb nur noch der jüngste übrig. Diesen jüngsten liebte er sehr; er ließ ihn nicht arbeiten noch irgend ein Geschäft besorgen; er hieß der schöne Josef. Die Brüder ärgerten sich über ihn und sagten zu einander: »Morgen wollen wir nicht aufs Feld gehn, wenn Josef nicht mit uns geht. Weshalb ist er so verwöhnt? Der Vater läßt ihn nicht arbeiten noch irgend ein Geschäft verrichten, nicht mit uns aufs Feld gehn noch zu den Gärten noch in die Weinberge. Wir gehen morgen nirgendwohin, wenn er nicht mit uns geht.« Am andern Morgen rief der Vater sie und fragte: »Was habt ihr, meine Söhne,[13] daß ihr nicht aufs Feld gegangen seid?« »Wir gehen nicht,« erwiderten sie. »Weshalb denn nicht?« Da antworteten sie: »Unser ganzes Leben lang gehen wir und arbeiten für deinen Lebensunterhalt und arbeiten in deinen Gärten und deinen Weinbergen, aber jener dein Sohn arbeitet nichts, und doch liebst du ihn mehr als uns; wir werden nicht mehr arbeiten, wenn er nicht mit uns arbeitet.« Da rief der Vater ihn und sagte: »Josef, auf, mein Sohn, geh' und arbeite heute mit deinen Brüdern.« »Jawohl, Vater,« versetzte er, »wie du willst.« Die Brüder nahmen ihn also mit. Unterwegs sagte der eine der beiden Brüder zum andern: »Wir wollen ihn an irgend einen Ort führen, wo ein Brunnen ist, in den wollen wir ihn hineinwerfen.« So gingen sie weiter, sie vorauf und er hinter ihnen drein. »Wohin gehen wir,« fragte er die Brüder, »an einen entfernten Ort?« »Wir haben einen entfernt liegenden Weinberg,« gaben sie ihm zur Antwort. Den ganzen Tag gingen sie weiter, bis sie an die Landstraße kamen, an welcher sich ein Brunnen befand. Sie ließen sich bei ihm nieder und ließen auch ihren Bruder sich setzen; darauf ergriffen sie ihn und warfen ihn in den Brunnen; dort ließen sie ihn und kehrten nach Hause zurück. Als sie am Abend zu ihrem Vater kamen, rief dieser: »Wo ist euer Bruder Josef?« »Er ist nur bis zur Hälfte des Weges mit gegangen,« erwiderten sie, »und wir wissen nicht, wohin er gegangen ist. Ist er nicht zurückgekommen?« »Er ist nicht gekommen,« sagte er. Er wartete bis zum folgenden Tage, aber der Junge kam nicht; noch einen weitern Tag wartete er, er kam nicht. So wurden es zehn Tage, und der Junge war noch immer nicht gekommen. Da fing der Vater an zu weinen, und weil er so viel weinte – denn er weinte bei Nacht und bei Tage –, so erblindeten seine Augen.

Auf jener Straße, an welcher der Brunnen lag, zog eine Karawane. Sie machten bei dem Brunnen Halt, und die Leute sagten: »Wer will in den Brunnen hinabsteigen, um uns den Eimer zu füllen?« Aber keiner wollte es tun. So saßen sie da und fingen an, mit einander zu streiten. Als der junge Mann, welcher im Brunnen saß, den seine Brüder hinabgeworfen hatten, das hörte, rief er: »Werft den Eimer herunter, ich will euch schöpfen; streitet euch nicht.« Da ließen sie den Eimer hinab, und er schöpfte, und die Leute der Karawanen zogen herauf, bis sie getrunken hatten und ihre Tiere, und sie ihre Schläuche gefüllt hatten. Dann riefen sie ihm zu: »Sollen wir dir den Eimer hinabwerfen, daß du zu uns hinaufsteigst, oder willst du da im Brunnen sitzen bleiben?« »Braucht ihr kein Wasser mehr?« fragte er. »Nein!« erwiderten sie. »Dann laßt den Eimer herunter und Seile, so will ich heraufkommen.« Sie taten das, und als er hinaufgestiegen war, fragten sie ihn: »Wieviel Lohn wünschest du?« »Gebt mir, so viel ihr wollt,« versetzte er. »Nein, verlange du.« »Ich verlange nichts,« erwiderte er. »Aber wie sollen wir es denn wissen?« Da sagte[14] der Führer: »Sammelt für ihn, von jedem Mann fünf Piaster und für jedes Maultier fünf; er hat uns Gutes erwiesen, gebt ihm noch mehr.« Sie sammelten also für ihn bei der Karawane, und es kamen tausend Piaster zusammen. Darauf sagten sie ihm; »Nimm diese tausend Piaster.« Er erwiderte: »Gott vergelte es euch und lasse euch gesund zu euren Angehörigen gelangen.« Darauf fragten sie: »Gehst du von hier in dieser Richtung oder in jener?« »Wohin geht ihr?« fragte er: »Wir gehen nach Bagdad.« »So will ich mit euch gehen,« sagte er. Da brachen sie zusammen auf und kamen nach Bagdad. Dort eröffneten die Leute der Karawane einen Handel und saßen da und verkauften.

Der junge Mann ging umher, um sich die Stadt anzusehen; da traf ihn der König und fragte ihn: »Aus welcher Gegend bist du, Mann?« »Aus der Gegend von Damaskus,« erwiderte er. »Was willst du denn hier machen?« »Ich gehe umher und sehe mir die Stadt an.« »Kehrst du in deine Heimat zurück, oder bleibst du hier wohnen?« »Ich will hier in der Stadt wohnen bleiben.« Darauf fragte er ihn: »Willst du nicht als Diener bei mir eintreten?« »Wenn du mich willst, so will ich es tun.« Als der König dies bejaht hatte, trat er bei ihm in Dienst. »Wie heißt du?« fragte er ihn. Er antwortete: »Der schöne Josef.« Er wohnte nun bei ihm und besorgte ihm seine Geschäfte; da er aber von Gestalt und auch sonst ein schöner Mann war, so warf die Tochter des Königs ein Auge auf ihn und wünschte, ihn zu heiraten. Er aber wollte nicht, und die Königstochter wurde gegen ihn sehr aufgebracht. Nun hatte der König eine Truhe voll Goldstücke; die Tochter begab sich in der Nacht an den Ort, wo diese Truhe stand, brach sie auf und nahm das Gold daraus weg. Als der König am andern Morgen zu der Truhe ging, um Goldstücke herauszunehmen, fand er sie erbrochen. Da geriet er in Zorn und ließ die Leute verhaften und ins Gefängnis setzen und ließ sie schlagen und peinigen; aber er konnte nicht in Erfahrung bringen, wer das Gold genommen und die Kiste aufgebrochen hatte. Da kam seine Tochter zu ihm und sagte: »Du strafst diese Leute und läßt sie schlagen, sie aber haben die Truhe nicht erbrochen und das Gold nicht genommen.« »Aber wer hat denn die Truhe erbrochen und das Gold genommen?« »Der schöne Josef, den du als Diener angenommen hast, hat die Truhe erbrochen.« »Hast du selbst ihn gesehn?« »Ich habe ihn gesehen,« erwiderte sie, »und habe ihm das Gold abgenommen.« Sie war aufgebracht über ihn, weil er sie nicht heiraten wollte; deshalb warf sie diesen falschen Verdacht auf ihn. Der König ließ darauf die Leute aus dem Gefängnisse heraus und ließ Josef holen und ins Gefängnis setzen. Dort blieb er eine lange Zeit.

Einst träumte der König nachts: Sieben Stück Vieh, sehr fette Kühe, kamen auf ihn zu, und wiederum kamen auf ihn zu sieben schwache und elende Kühe, an denen nichts als Haut und[15] Knochen war, und sie kamen zu jenen fetten Kühen und fraßen sie auf. Als der König des andern Morgen aufgestanden war, versammelte er die Leute der ganzen Stadt und erzählte ihnen seinen Traum, aber er fand keinen, der ihm den Traum hätte auslegen und sagen können, was er bedeute. Da stieg er zu Pferde und ritt nach Stambul zum Sultan und erzählte ihnen dort den Traum; aber niemand wußte, was der Traum bedeuten sollte. Einen Monat lang zog er umher und erfuhr nichts, und niemand wußte etwas; mißmutig und betrübt kehrte er in seine Stadt Bagdad zurück und war in größter Verlegenheit, was wohl der Traum bedeuten möchte. Er fragte, ob niemand mehr in der Stadt übrig sei, der noch nicht zu ihm gekommen sei, daß er ihn nach jenem Traume frage. Da sagte einer: »Es ist nur noch der schöne Josef übrig, den du ins Gefängnis geworfen hast.« »Ach,« sagte er, »ich habe ja ganz vergessen, daß ich ihn ins Gefängnis habe werfen lassen; geht und holt ihn aus demselben heraus.« Als sie ihn nun zu ihm gebracht hatten, fragte er: »Wie, Josef, du bist noch immer im Gefängnis? Ich hatte dich ganz vergessen.« »Ihr habt mich fälschlich beschuldigt, Gott möge euch gnädig sein. Deine Tochter war aufgebracht über mich, weil ich sie nicht heiraten wollte, darum hat sie die Truhe aufgebrochen, das Gold genommen und behauptet, sie hätte es mir abgenommen.« Der König erwiderte: »Verzeihe uns, Josef, diese Sache ist nun vergangen; aber ich möchte dir eine Frage vorlegen.« »Was, mein König?« fragte er. »Ich schlief in der Nacht,« erzählte der König, »da kamen sieben Kühe, große und sehr fette, und dann kamen sieben magere, an denen nichts als Haut und Knochen war.« »O Herr,« versetzte Josef, »es werden sieben gute Jahre kommen, und es wird viel Weizen wachsen, und Lebensmittel werden in diesen sieben Jahren reichlich vorhanden sein. Nach ihnen werden andere sieben Jahre kommen, da wird sehr große Dürre sein; und diese sieben dürren Jahre werden verzehren die sieben guten Jahre.« »Ist das die Erklärung des Traumes?« fragte der König. »Ja,« erwiderte er.

Und es kamen sieben sehr gute Jahre und es wuchs viel Weizen und er wurde sehr billig, und der König legte Vorräte davon an, bis daß er viel Weizen hatte, bis vorüber waren die sieben Jahre. Dann kam sieben Jahre lang Dürre; nie fiel mehr Regen, und es entstand kein Gewölk und es fiel kein Schnee und es wuchs kein Weizen und keine Saatfrucht. Und es entstand eine große Teuerung. Die Leute starben vor Hunger, und es gab nirgendwo Weizen, außer bei jenem König, der ihn aufgespeichert hatte, bei welchem der schöne Josef war. Nun ließ der König von diesem Weizen herausnehmen und verkaufen; den Josef bestellte er zum Kornmesser, und er maß denen, welche kauften, den Weizen zu. Aus der Gegend von Damaskus kamen sie in die Gegend von Bagdad, um Weizen zu kaufen an dem Orte, an welchem Josef sich befand. Auch seine Brüder kamen, welchen zu holen.[16] Sobald er sie erblickte, erkannte er sie, sie aber erkannten ihn nicht. Er maß ihnen Weizen zu, sie bezahlten ihm den Preis, dann ließen sie die Säcke, in welchen sich der Weizen befand, stehn und gingen sich die Stadt ansehen. Josef aber trat an die Säcke, band sie auf, wickelte das Geld, welches sie ihm gegeben hatten, in ein Tuch und warf es in die Säcke zwischen den Weizen. Als sie zurückkehrten, ließ er sie zu Abend speisen und versorgte sie mit Proviant. Darauf luden sie den Weizen auf und kehrten in ihre Heimat zurück. Er hatte sie erkannt, aber ihnen nicht gesagt, daß er ihr Bruder sei.

Als sie bei ihrem Vater eintrafen, fragte er sie: »Habt ihr Weizen gebracht, meine Söhne?« »Jawohl, Vater,« erwiderten sie; »ach Vater, dieser Kornmesser, welcher den Weizen zumißt, ist ein sehr guter Mann, er kam uns entgegen, behandelte uns, wie es uns gebührt, ließ uns ein Abendessen bereiten und hat uns außerdem noch mit Proviant versorgt.« »Ja, meine Söhne,« antwortete er, »Gott beschere euch immer euren Unterhalt! Schüttet nun den Weizen aus, meßt nach und seht, ob er gut gemessen ist.« Sie schütteten den Weizen aus den Säcken und maßen ihn; da kam das Tuch zum Vorschein. Sie betrachteten es und fanden das Geld, welches sie ihm gegeben hatten, darin eingewickelt. Da sagten sie: »Ach der Arme, dem Kornmesser ist da das Geld hineingefallen.« Der Vater sagte: »Wenn ihr ein anderes Mal holen geht, meine Söhne, so gebt es ihm zurück.« Nach einiger Zeit gingen sie wieder Weizen holen, und als sie zu ihm kamen, sagten sie: »Da hast du das Geld, welches du zwischen dem Weizen hast liegen lassen.« Er nahm das Geld von ihnen an; darauf fragte er sie: »Habt ihr noch einen Vater?« »Wir haben noch einen,« erwiderten sie, »aber er ist blind.« »So nehmt dieses gestickte Tuch und gebt es ihm.« Als sie nun mit dem Tuche und dem Weizen wieder zu ihrem Vater gekommen waren, fragte dieser sie: »Habt ihr ihm das Geld zurückgegeben?« »Ja, Vater, wir haben es ihm gegeben, und er hat dir dieses Tuch geschickt als ein Geschenk von ihm, indem er sagte, du möchtest deine Augen damit reiben.« Wie er nun seine Augen damit rieb, wurden sie wieder sehend. Zum drittenmal zogen sie zu ihm und sagten: »Unser Vater war blind und hat seine Augen mit dem Tuche, welches du uns gegeben hast, gerieben, da wurde er wieder sehend; er läßt dir danken.« Da sagte er: »Ich bin Josef, den ihr in den Brunnen geworfen habt.« Da küßten sie ihn, und er küßte sie, und sie weinten und er weinte. Darauf sagte er: »Nehmt keinen Weizen mehr mit, sondern geht und holt euren Vater und holt eure Familien und eure Kinder und kommt hierher.« Sie kehrten zu ihrem Vater zurück und sagten: »Vater, dieser Kornmesser ist unser Bruder Josef; er sagt, wir sollten dich holen und unsere Familien und unsere Kinder und sollten zu ihm kommen.« Er erklärte sich damit einverstanden, und sie nahmen ihre Familien und ihre[17] Kinder und den Vater und zogen zu ihm hin. Als sie zu Josef kamen, ging dieser dem Vater entgegen und küßte seine Hand. Und der Vater weinte lange; dann sagte er: »Mein Sohn, du gingst zur Arbeit mit deinen Brüdern – früher ließ ich dich nie gehen –, da hast du dich in dies Land begeben und hast mich verlassen, so daß ich blind wurde wegen der Trennung von dir!« »Vater,« versetzte er, »ich bitte, zürne nicht meinen Brüdern! Als ich mit ihnen aus unserem Dorfe ging und du mich mit ihnen zur Arbeit geschickt hattest, da warfen sie mich in einen Brunnen – aber sage ihnen nichts! Mit Hilfe einer Karawane, die in jene Gegend kam, konnte ich den Brunnen wieder verlassen und begab mich mit ihnen in dieses Land.« Da erwiderte der Vater: »Dir zu Liebe werde ich den Brüdern nichts sagen.« So lebten sie zusammen, bis der Vater starb; da kamen die Leute der Stadt und kondolierten dem Josef. Sieben Tage blieben sie bei ihm und weinten und klagten mit ihm. Darauf lebte er noch lange mit seinen Brüdern zusammen. [Und es ist aus.]

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 13-18.
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