7.

[22] Es war einmal einer, der kaufte einen jungen Esel und brachte ihn seinen Kindern. Der Esel wuchs heran, und jeden Tag ging der Mann ihm Gras holen. Da war ein Gras, das hieß Fessa, das pflegte er dem Esel zu bringen und zu fressen zu geben. Einst mußte er eine Reise antreten, da sagte er zu seiner Frau: »Gib gut auf den Esel acht, laß ihn keinen Hunger leiden, sondern hole ihm jeden Tag Gras und gib es ihm zu fressen.« Den Esel hatte er einäugig gekauft. Am andern Morgen begab sich der Mann also auf die Reise. Darauf kam einer, der sah den Esel und fragte die Frau, ob sie ihn ihm nicht verkaufen wolle. Sie aber erwiderte:[22] »Wenn mein Mann kommt, wird er (damit nicht zufrieden sein und) die Sache nicht leicht nehmen.« »So lüge ihm doch irgend etwas vor!« Da verkaufte sie ihm den Esel.

Nachdem ihr Mann einen Monat in der Fremde gewesen war, kehrte er zurück; gleich fragte er: »Wo ist der Esel, Frau?« »Lieber Mann,« erwiderte sie, »dein Esel war ein Esel; ich ging ihm Futter zurechtmachen, da fand ich, daß er inzwischen ein Richter geworden war.« »Wo ist er denn jetzt?« fragte er. »Er ist ins Regierungshaus gegangen.« »So will ich ihn holen gehn.« »Wird man dir denn erlauben, daß du ihn herbringst?« warf sie ein. Er aber fragte: »Welcher von den Richtern ist unser Esel?« Nun gab es da einen einäugigen Richter. Da antwortete sie: »Der Richter, der nur ein Auge hat.« Darauf holte der Mann ein Büschel Gras, begab sich an den Ort, wo der Richter war, und trat ein; dann nahm er das Büschel Gras in die Hand, trat vor den Richter und sagte: »Komm! Komm, komm! du Verfluchter, hast du die Fessa vergessen, die ich dir zu fressen gab?« Da fragten ihn die Leute, welche im Saale des Richters saßen: »Was sagst du, Mann?« Er antwortete: »Der Richter war ein Esel, und jetzt ist er ein Richter geworden.« »Welches Kennzeichen hat denn dein Esel?« fragten sie. »Er ist einäugig.« Sie betrachteten den Richter und fanden, daß er in der Tat nur ein Auge hatte. Darauf warfen sie den Mann heraus und sagten ihm: »Geh, Mann, du bist verrückt, ein Esel soll Richter werden?« Der Richter fragte: »Was sagt dieser Mann?« »Herr,« erwiderten sie, »das ist ein Verrückter.« »Wieso?« »Er sagt, du seiest sein Esel.« »Vermutlich ist er verrückt, der Arme, ruft ihn hierher zurück.« Da sagten sie ihm, er möchte zum Richter kommen, und dieser fragte ihn: »Wie viel war dein Esel wert?« »Fünfhundert Piaster,« erwiderte er. Da nahm der Richter fünfhundert Piaster aus seiner Tasche und gab sie ihm; darauf befahl er ihm wegzugehn. Als der Mann zu seiner Frau kam, fragte diese ihn: »Nun, was hast du ausgerichtet?« »Der Verfluchte,« antwortete er, »er saß auf dem Sofa und gab mir fünfhundert Piaster.« Und die Geschichte ist aus.

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 22-23.
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