22.

[75] Es war einmal ein Mann, der kam zu seiner Frau und fragte sie: »Frau, was wollen wir uns heute zu essen holen?«1 »Bring, was du willst,« erwiderte sie. Er sagte: »Heute will ich eine Gans bringen.« »Gut,« erwiderte sie, »bringe eine.« Da holte er eine Gans; hierauf ging er an seine Arbeit. Während die Frau mit dem Zubereiten der Gans beschäftigt war, kam einer2 zu ihr und fragte sie: »Was für ein Gericht kochst du hier?« Sie erwiderte: »Mein Mann hat uns eine Gans heimgebracht.« »Habt ihr sie schon gekocht?« fragte er. »Eben koche ich sie,« antwortete sie. Da setzte er sich zu ihr, um zu warten, bis die Gans gar wäre; dann bat er sie: »Zeige mir doch die Gans.« Als sie sie ihm nun zeigte, sagte er: »Du solltest sie mir schenken.« Sie aber erwiderte: »Wenn ich sie dir schenke, was soll ich dann meinem Manne sagen?« Er sagte: »Wie du willst; wenn du sie mir aber nicht schenkst, komme ich nie mehr zu dir.« Sie sagte: »Gut, komm nicht mehr.« Mit den Worten: »Also will ich gehen,« erhob er sich und wollte weggehen; da sagte sie: »Nimm dir die Hälfte davon; die andere Hälfte wollen wir übrig lassen.« »Nein, nein,« sagte er, »du mußt[75] mir sie ganz geben.« Da fragte sie: »Aber wenn ich sie dir nun ganz gebe und mein Mann nach Hause kommt, was wollen wir ihm sagen?« Er erwiderte ihr: »Sage ihm: ›Du hast sie nicht vollständig getötet; da ist sie davongeflogen.‹« Da nahm jener die Gans in Empfang und ging weg. Am Abend kam ihr Mann nach Hause und fragte sie: »Frau, hast du die Gans zubereitet?« Sie antwortete: »Was habe ich mit ihr gemacht? Ich setzte Wasser über das Feuer und wollte sie waschen; aber sowie ich sie ins Wasser tauchte, flog sie auf und davon.« Er fragte: »Aber wie kam das, daß sie auf- und davonfliegen konnte?« »Du mußt sie nicht völlig getötet haben,« erwiderte sie. »Ist es wirklich so?« fragte er. »Ja freilich,« erwiderte sie. Er sagte: »Nein, o du ...3! Heute will ich eine andere holen und sie vollständig töten.« Da ging er hin, um eine andere Gans zu holen; er schlachtete sie und schnitt ihr den Kopf ab, so daß dieser ganz abgetrennt war; hierauf übergab er sie seiner Frau mit den Worten: »Hier, Frau! Ich habe sie geschlachtet und ihr den Kopf abgeschnitten, so daß er ganz abgetrennt ist; jetzt wird sie nicht wieder davonfliegen, wie die, welche gestern davongeflogen ist.« Dann ging er seinem Geschäfte nach. Die Frau aber stellte Wasser aufs Feuer und wusch die Gans; dann kochte sie Reis mit Fleisch, tat dies als Füllsel in die Gans und briet sie am Feuer. Da kam der Mann, der die am vorhergehenden Tage zubereitete Gans geholt hatte, und fragte: »Was bereitet ihr euch für heute Abend zu?« Sie sagte: »Was wir machen? Wir haben ihn angeführt und ihm gesagt, die Gans, die wir uns gestern geholt hatten, sei davongeflogen; der Arme hat es geglaubt und uns heute eine andere Gans gebracht, er hat ihr aber den Kopf abgehauen, so daß der Kopf ganz abgetrennt ist, und hat zu mir gesagt: ›Frau! ich habe ihr den Kopf abgehauen, damit sie nicht davonfliegt.‹« Hierauf bat sie jener Mann: »Ich möchte gerne sehen, wie sie aussieht.« Sie erwiderte: »Noch ist sie nicht gar.« »Dauert es noch lange, bis sie gar ist?« fragte jener. »Sie braucht etwa noch eine Stunde,« antwortete sie. Da wartete er; dann sagte er: »Sieh doch nun zu! Vielleicht ist sie gar.« Sie nahm sie herunter und fand, daß sie gar war; er aber sagte: »Ich will sie mitnehmen.« Sie aber erwiderte: »Wie kannst du sie mitnehmen wollen? Gestern hast du jene mitgenommen, und heute willst du diese mitnehmen!« Er aber sagte: »Wenn du sie mir gibst, komme ich jeden Tag zu dir; wenn du sie mir jedoch nicht gibst, so komme ich nie mehr zu dir.« »Schön!« sagte sie, »aber was wollen wir meinem Manne sagen?« Er erwiderte: »Erfinde irgend eine Lüge für ihn!« Sie sagte: »Gestern habe ich ihn[76] angelogen und ihm gesagt, sie sei fortgeflogen; wie soll ich ihn heute anlügen?« Er erwiderte: »Sage ihm doch: ›Du hast nichts gebracht.‹« Sie sagte: »Ihm, der mir gesagt hat: ›Ich habe sie gebracht und ihr den Kopf ganz abgeschnitten, damit sie nicht da vonfliegt‹?« »Tu, wie du willst!« sagte jener, »bringe mir jetzt zwei Brotfladen, damit ich die Gans zwischen dieselben lege; mache du mit deinem Manne, was du willst!« Da brachte sie ihm zwei Brotfladen; er legte die Gans zwischen dieselben, nahm sie und begab sich nach Hause.

Als der Mann von seiner Arbeit nach Hause kam, fragte er: »Wie stehts, Frau?« Sie erwiderte: »Was?« »Hast du die Gans zubereitet?« fragte er. »Welche Gans?« fragte sie. Er sagte: »Die Gans, welche ich gebracht habe.« Sie erwiderte: »Jene, die du gestern gebracht hast, die ist ja davongeflogen.4« Er sagte: »Frau, habe ich dir nicht heute eine gebracht und zu dir gesagt: ›Sieh genau zu; ich habe sie geschlachtet und ihr den Kopf völlig abgeschnitten‹?« Sie aber fragte: »Mann, wie stehts mit dir? Hast du geschlafen während der Arbeit?« Er erwiderte: »Ja, ich habe eine Weile geschlafen.« Da sagte sie: »Mann! das träumtest du, daß du heute eine gebracht hast; während du schliefst, träumtest du, daß du sie gebracht hast.« »Ist das sicher wahr, Frau?« fragte er. »Ja,« erwiderte sie. Da sagte er: »So hole uns also zwei Brote und ein Stück Käse; wir wollen zu Abend essen.« Hierauf holte sie zwei Brote und ein Stück Käse; da speisten sie.

Nachdem er des anderen Morgens früh aufgestanden war, sagte er: »Frau! heute will ich zwei Gänse holen.« »Hole sie nur!« sagte sie. Nun ging er hin, holte zwei Gänse, schlachtete sie und sagte: »Hier sind zwei Gänse; du sollst sie mir zum Abendessen zubereiten.« Während sie die Gänse zubereitete, kam jener Mann wieder und fragte: »Was bereitet ihr für heute Abend zu?« Sie sagte: »Was wir zubereiten?« Er fragte: »Bereitet ihr euch denn kein Abendessen?« »Ja freilich,« sagte sie. Da fragte er wieder: »Was bereitet ihr euch für heute Abend?« Sie berichtete: »Er hat zwei Gänse gebracht.« »Sind sie gar?« fragte jener. »Nein, sie sind noch nicht gar,« erwiderte sie. Da wartete er; dann bat er sie: »Sieh doch nach ihnen!« »Was gehen sie dich an?« fragte sie. »Ich möchte sie mitnehmen,« sagte er. Da sprach sie: »Gestern hast du eine mitgenommen, und vorgestern hast du eine mitgenommen, und heute kommst du schon wieder, um sie mitzunehmen?« Er erwiderte: »Wenn du sie mir gibst, komme ich jeden Tag zu dir; wenn du sie mir aber nicht gibst, betrete ich dein Haus nicht mehr.« Da sagte sie: »So nimm eine, und laß meinem Manne eine!« Er aber entgegnete: »Eine ist nicht genug; da stehen meine Kinder um mich herum und lassen für mich nichts mehr zum Essen übrig.« Sie sagte: »Aber drei Tage hindurch geht es nun schon so, daß[77] er Gänse holt und Geld dafür ausgibt; dann kommst du und holst sie, und er kriegt nichts davon zu kosten!« »Mache, was du willst!« sagte jener. »Aber was wollen wir ihm sagen?« fragte sie. »Erfinde irgend eine Lüge für ihn!« erwiderte jener, trat an den Kochkessel heran und nahm die beiden Gänse heraus; dann ging er fort.

Als ihr Mann nach Hause kam, fragte er: »Hast du die Gänse zubereitet, Frau?« Sie antwortete: »Ja, lieber Mann!« »Sind sie schön geworden?« fragte er. »Ja,« antwortete sie. »Gut,« sagte er, »mache, daß wir essen können!« Sie aber sagte: »Lieber Mann! der Richter hat davon gehört, daß du Gänse heimgebracht hast; da hat er sagen lassen, du möchtest ihn einladen.« »Gut,« sagte jener, »ich will hingehen und ihn dazu einladen.« Da ging er den Richter einladen; er brachte ihn selbst mit nach Hause. Nun sagte die Frau zum Manne: »Hier ist eine Schüssel, geh etwas Milch holen; soll ich denn die Gänse ohne Milch auf den Tisch stellen?« Er erwiderte: »Ich will welche holen.« Während aber der Mann wegging, um Milch zu holen, trat die Frau zu dem Richter, zu dem Platze, an welchem er saß, und sagte: »O Richter! ich möchte ein paar Worte mit dir reden; aber ich schäme mich vor dir.« »Was willst du mir denn sagen?« fragte er. Sie sagte: »Mein Mann ist von einer Krankheit befallen; nun sind ihm die Hoden eines Richters verordnet worden; daher hat er dich nun geholt, um sich Seiner Hoden zu bemächtigen und sich daraus eine Arznei zu bereiten; ich aber will dich nicht im Stiche lassen, denn wenn man einem die Hoden abschneidet, so stirbt er.« Jener sagte: »Also deswegen hat mich dein Mann eingeladen?« »Ja freilich,« antwortete sie; »auf, nimm Reißaus, bevor er zurückkommt!« Da machte sich der Richter auf und wollte eilig weglaufen; unter der Türe aber begegnete er dem Mann – der Richter hatte's eilig –, er stieß an die Schüssel mit Milch und verschüttete sie. Als der Mann zu seiner Frau ins Zimmer getreten war, fragte er sie: »Frau, was hat der Richter, daß er so eilig wegläuft?« Sie erwiderte: »Lieber Mann! ich habe unterdessen die Gänse auf Teller angerichtet; da hat er sie schön gefunden, sie gestohlen und ist eilig davongelaufen.« Da machte sich der Mann auf und lief hinter dem Richter drein, indem er ihm zurief: »Bitte, bitte, Richter! Eine für mich und eine für dich.« Der Richter aber antwortete: »Um keinen Preis5 gebe ich dir eine, auch keine einzige.« Der Mann hatte die Gänse im Sinn, von denen eine ihm, die andere dem Richter gehören sollte; der Richter aber meinte, er rede von den Hoden; deswegen antwortete er: »Um keinen Preis gebe ich dir eine, auch keine einzige.« So lief der Richter eilig zu seiner Frau, während der Mann ihn verfolgte. Die Frau fragte den Richter: »Lieber Mann, weshalb fliehst du vor jenem Menschen? Er hat dich ja zum Abendessen eingeladen, und nun nimmst du Reißaus vor ihm?« Er[78] erwiderte: »Frau! du weißt nicht, warum er mich eingeladen hat.« »Warum denn?« fragte sie. »Er wünscht meine Hoden zu haben,« antwortete er. »Was will er damit?« fragte sie. Er erwiderte: »Er ist von einer Krankheit befallen; da sind ihm Richterhoden verordnet worden.« »Mann, wer hat dir dies gesagt?« fragte die Frau. Er antwortete: »Seine Frau, die Arme, hat es mir gesagt.« »Schön,« sagte sie zu ihrem Manne; »also hast du weder Ruhe gehabt noch etwas zu essen bekommen.« Hierauf begab sich der Mann, der die Gänse gekauft hatte, zu seiner Frau zurück. Die fragte: »Hat er dir etwas gegeben, Mann?« »Nein, er hat mir nichts gegeben,« antwortete er. Sie sagte: »Weil sie so außerordentlich gut geworden waren, hat er dir nichts gegeben.« »Aber was sollen wir nun tun, Frau?« fragte er. »Wir haben nun einmal kein Glück damit; hole uns also zwei Brote und etwas Gansbrühe; dann wollen wir zu Abend speisen.« Da holte sie ihm zwei Brote, zerkrümelte sie ihm auf einem Teller und goß ihm etwas Brühe darüber; da setzten sie sich hin und aßen. Und nun ist's aus.

1

Es ist bekannt, daß im Orient der Mann zu Markte geht.

2

Jedenfalls ihr Liebhaber.

3

Von der Erzählerin war bloß herauszubringen, daß mḥaškale auch im Arabischen ein Schimpfwort sei; auch behauptete sie, es bezeichne ursprünglich ein wildes Tier von der Größe einer Katze. – Die Erklärung der ganzen Stelle ist unsicher; auch ist die Erzählung stark verkürzt, da jedenfalls das Folgende sich erst am folgenden Tage zuträgt.

4

[und die davongeflogen ist?].

5

Wörtl. auch wenn deine Augen platzen.

Quelle:
Bergsträsser, G[otthelf] (Hg.): Neuaramäische Märchen und andere Texte aus Malula. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1915, S. 75-79.
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