I
9. 10. Die Übereilung.1

CalwDim. p. 216 l. 7 ff.


Ein Mann hatte eine schöne Frau, aber kein (kleines) Kind. Nach einiger Zeit wurde sie jedoch schwanger. Da freuten sie sich sehr, sie sowohl wie ihr Mann, und baten Gott, dass ihnen doch ein Sohn bescheert werden möchte. »Ich kann dir verkünden«, sagte der Mann zur Frau, »dass es ein Knabe ist. Wir werden Nutzen von ihm und Freude an ihm haben, und ich werde ihm einen schönen Namen geben.« Doch die Frau erwiderte ihm: »Sei nicht voreilig, damit es dir nicht ergehe, wie es dem Manne mit dem Honig und dem Oel ergangen ist.« »Wie war das?« fragte der Mann. Da erzählte sie:

Es war einmal ein Mann, der [be]kam täglich aus dem Hause eines reichen Mannes [zu seiner] Nahrung (und) Honig und Öl. Davon zehrte er, und was davon übrig blieb, pflegte er in einen Krug zu thun, den er dann in einem Winkel seiner Wohnung aufhängte. Der Krug wurde schliesslich voll. Als er nun eines Tages, während er auf dem Rücken unter dem Kruge lag und den Stock in der Hand hatte, nachdachte, sagte er zu sich: »Ich werde den Preis von Honig und Öl steigen lassen, dann werde ich den Inhalt dieses Kruges verkaufen und mir dafür Ziegen kaufen. Die werden alle fünf Monate werfen und zahlreich werden, dann[140] werde ich mir Ochsen und Kühe und Ländereien und ein Ackerfeld kaufen, Bauern in Dienst nehmen, säen lassen und werde an ihrem ergiebigen Ertrage verdienen; so werde ich ein grosses Vermögen erwerben. Dann werde ich mir ein schönes Haus und Sklaven und Sklavinnen kaufen und eine schöne Frau heiraten. Die wird empfangen und einen Sohn gebären, und dem will ich einen schönen Namen geben. Begeht er aber eine Ungezogenheit, dann will ich ihn züchtigen, und wenn er ungehorsam ist, werde ich ihn mit diesem Stocke schlagen.« Indem er nun dabei seinen Stock schwang, traf er den Krug und zerbrach ihn, und [sein Inhalt] floss ihm über das Gesicht. –

Sie gebar aber wirklich einen Sohn, und sie freuten sich über ihn. Nach einigen Tagen musste sie zur Waschung gehen und sprach zu ihrem Manne: »Bleibe hier bei deinem Sohne, ich will ins Bad gehen, um zu baden.« Als sie nun weggegangen war und ihr Kind bei ihrem Gatten zurückgelassen hatte, kam nach einer Weile ein Bote vom König und sprach: »Mach dich jetzt gleich auf, der König wünscht dich.« Er hatte nun niemand, den er bei dem Kinde zurücklassen konnte, ausser ein Wiesel, das an ihn gewöhnt war, da er es von Jugend an aufgezogen hatte, und es bei ihm wie ein Sohn war. Dieses liess er bei seinem Sohne zurück, verschloss die Thür und ging weg. Als er weggegangen war, kroch aus einem Loche im Hause eine schwarze Schlange heraus und kam nahe an den Knaben heran. Da stürzte sich aber das Wiesel auf sie und tötete sie, wobei sein Maul blutig wurde. Als nun der Hausherr zurückkam, sprang im Augenblicke, wo er die Thür öffnete, das Wiesel [an ihn heran], um ihm die frohe Botschaft seiner That zu überbringen. Als jener aber dessen Maul blutig sah, dachte er, es hätte seinen Sohn getötet, und schlug mit dem Stocke, den er in der Hand hatte, auf den Kopf des Wiesels und tötete es. Als er jedoch in die Wohnung trat und seinen Sohn und die Schlange erblickte, bereute er seine That. Seine Frau[141] trat dann ein und sprach: »Was ist dir?« Da erzählte er ihr, was er gethan. »Das ist die Frucht der Uebereilung!« sagte die Frau.2


11. Der König und die Traumdeuter. CalwDim. p. 247 l. 8 ff.

12 (f 8 a). Wer zu sehr nach Fremdem strebt, verliert auch das Seinige. CalwDim. p. 272 l. 5 ff.

13. Die vier Wanderer. CalwDim. p. 278 l. 9 ff.

1

Der Codex hat keine Überschriften.

2

Wie in vielen anderen, speziell orientalischen, Anekdoten drückt auch hier der schlechte Schluss die Wirkung des hübschen Geschichtchens bedeutend herab. Obwohl bereits Kalilag und Damnag (pag. 56 resp. 55) diesen Schluss hat, so möchte ich doch vermuten, dass ursprünglich die Schlange wirklich das Kind tötete und dann erst vom Wiesel selbst getötet wurde, das wiederum nachher vom Manne erschlagen wurde. Nur so würde sich die Warnung der Frau als berechtigt erweisen. Aber dieser Schluss war wohl den Abschreibern oder Übersetzern zu tragisch, und er wurde verschlimmbessert.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 140-142.
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