XVI
49. Die Bürgschaft.

[162] ATLÎDI p. 4 l. 4 ff.


Omar, Sohn des Chattâb, sass einmal zu Gericht, da sah er zwei Knaben einen dritten herbeischleppen. Sie brachten ihn vor ihn und sagten: »Dieser hat unseren Vater getötet.« Als Omar den Knaben danach fragte, sagte er: »Gewiss habe ich ihn getötet, aber ich that es aus folgendem Grunde. Ich hatte ein Kameel, das kam nahe an den Acker des Vaters dieser Jünglinge heran. Da nahm er einen Stein, warf ihn dem Kameel an den Kopf, und es verendete. Da nahm ich denselben Stein, mit dem er mein Kameel getötet hatte, schleuderte ihn nach ihm, und er starb. So wurde er mit demselben Gegenstande getötet, mit dem er getötet hatte. Jetzt, o Chalîfe, verfahre mit mir ganz, wie es dir beliebt.« »Dein eigener Mund zeugte gegen dich«, erwiderte der Chalîfe, »du musst hingerichtet werden!« »Ich nehme es an«, erwiderte der Knabe, »aber unter einer Bedingung. Bei mir liegt das Depot einer Waise versteckt. Kein anderer weiss etwas davon. Wenn du mich nun nicht hingehen lässt, dass ich es herausnehme und seinem Besitzer zustelle, [lädst du] eine Sünde auf deinen Nacken. Gewährst du mir aber eine Frist von drei Tagen, so will ich hingehen und auch zurückkommen.« »Stelle mir einen Bürgen«, sagte der Chalîfe. Da sah sich der Knabe im Rate des Chalîfen um und sprach zu einem aus ihm, zu Abû Dharr1 gewendet: »Dieser wird für mich bürgen« – dabei kannte er ihn gar nicht. »Wohlan«, sagte Abû Dharr, »ich will auf drei Tage für ihn Bürgschaft leisten«, und der Knabe entfernte sich darauf.[163]

Nach drei Tagen war der Knabe noch nicht gekommen, und man wollte Abû Dharr töten. Sie warteten jedoch ein wenig, und da sahen sie den Knaben herbeieilen. Darob wunderten sich die Leute, und der Chalîfe richtete an ihn die Frage: »Du warst dem Tode entronnen, warum kamst du zurück?« Da erwiderte er: »Meine Religion gestattet so etwas nicht.« – »Was ist deine Religion?« – »Das Christenthum.«2 Darob wunderte sich der Chalîfe und sein Rat noch mehr. Hernach sagten die beiden Knaben, die Bluträcher: »Wir treten von der Blutrache3 zurück, wir verzeihen ihm.« Der Chalîfe und sein Rat. freuten sich darüber, und er liess den beiden Knaben Geld geben. Doch die nahmen es nicht und sprachen: »Wir haben Gott zu Liebe auf die Blutrache für unseren Vater verzichtet; nun willst du mit deinem Gelde uns diese gottgefällige That abkaufen!« Dann ging jeder heim.

1

Einer der »Genossen« des Propheten, von dem er vieles überlieferte. Seine Wahrheitsliebe wurde sprichwörtlich, im Gegensatze zu der anderer Überlieferer. † 32 d.H. (653 n. Chr.).

2

Das steht bei ATLÎDI nicht.

3

Eigentlich »unserem Blute«.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 162-164.
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