X
Der wahrsagende Esel.1

[203] Entspricht dem ersten Teile des GRIMM'schen Märchens »Das Bürle« (KHM No. 61) und des ANDERSEN'schen »Der grosse Klaus und der kleine Klaus«. Weiteres siehe bei GRIMM III p. 107 ff. und in ZVVk V p. 59 f.


Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ein Eselfüllen. Der Mann war aber sehr furchtsam, und sobald die Sonne untergegangen war, wagte er es nicht mehr, ins Freie zu treten. Und wenn er harnen musste, wagte er es nicht, hinauszugehen, wenn ihn nicht die Frau am Rockschooss anfasste. Eines Tages lag Finsternis und Dunkelheit über der Erde, und Regen und Schnee fiel herab. Da sagte er zu seiner Frau: »Ich will Wasser lassen.« Die Frau fasste ihn am Rockschooss an, und er ging heraus, um zu harnen. Dabei sprach er zu seiner Frau: »Diese Nacht ist eine Nacht für Männer.« »Dann bist du kein Mann«,2 erwiderte sie, versetzte ihm einen Schlag, drehte ihn im Kreise herum, verschloss die Thür, nahm den Schlüssel und liess ihn draussen. Nun tobte und lärmte er: »Frau! um Gottes willen, öffne die Thür, lass mich eintreten!« »Und wenn du sterben solltest, bleibst du da«, antwortete sie. Was sollte er nun thun? Er war ratlos. Dann trat er aber in den Stall, legte sich beim Esel nieder [und lag da] bis zum Morgen. Früh morgens setzte er sich auf seinen Esel und zog in die weite Welt. Er kam dann nach einer Stadt, und da sprach er zu sich: »Ich will umherziehen: Wo man mir sagt: ›Wir nehmen dich auf‹, da kehre ich nicht ein, und wo man mich nicht aufnehmen will, da kehre ich ein.« Wohin er nun kommt, sagt er:[204] »Wollt ihr mich nicht für diese Nacht hier aufnehmen?« »Warum sollten wir dich nicht aufnehmen?« fragt man ihn dann, »komm her, tritt ein!« »Huu!« ruft er darauf, »hier bleibe ich nicht.«

So ging er nun von Haus zu Haus, und wo die Leute sagten: »Wir wollen dich aufnehmen«, sagte er: »Hier bleibe ich nicht.« Schliesslich kam er an ein Haus, klopfte an die Thür, und da fragte eine Frau: »Wer ist da?« »Ich bin es«, antwortete er, »wollt ihr mich nicht hier aufnehmen?« Sie erwiderte: »Nein, wir haben keinen Platz.« »Also bleibe ich hier!« antwortete er. Die Frau zeterte: »Ich nehme dich nicht auf! ich nehme dich nicht auf!« Doch er antwortete: »Hier bleibe ich.« Und er trat ein, band seinen Esel an den Herd und setzte sich hin.

Als die Zeit vor Sonnenuntergang kam, trat ein »Krap, krap«3 ein und setzte sich zur Frau. Gleich darauf trat ein anderer ein, und auch er nahm Platz. Gleich darauf trat noch ein anderer ein, so dass ihrer drei waren. Nun holten sie einige Flaschen Arak heraus und begannen zu zechen, zu singen und sich zu vergnügen. Die Frau kochte dann einen Kessel Reis mit Fleisch, einen Kessel Japrach4 und einen Kessel Kubebe.5 Nun begannen sie sich gütlich zu thun und mit der Frau zu scherzen. Aber noch waren sie nicht zum Abendessen gekommen, als ihr Mann kam – er war zur Mühle gegangen – und an die Thür klopfte. »Wer ist da?« fragte die Frau. »Ich bin es«, antwortete er. »Wer ist das?« fragten sie ihre Liebhaber. »Mein Mann ist es«,[205] erwiderte sie, »er war zur Mühle gegangen, und jetzt ist er zurückgekommen.« »Was sollen wir nun thun?« fragten sie. – Ihr Mann war Färber, und er hatte drei leere Bottiche stehen. Da sagte sie zu ihnen: »Auf! tretet in die Bottiche, bis mein Mann eingeschlafen ist; dann will ich euch die Thür öffnen, und ihr könnt hinausgehen.« Sie traten dann in die Bottiche, und darauf öffnete sie ihrem Mann die Thür.6 Dann trugen sie ihre Säcke herein und setzten sich hin. »Ich bin hungrig«, sagte darauf der Mann. »Wahrhaftig«, erwiderte sie, »du warst nicht hier, und da sagte ich mir: wozu soll ich kochen?« Dann bespritzte sie Brod, brachte Oliven und Limonade (?), und sie setzten sich hin zum Abendessen. Da hustete der fremde Mann. Der Mann hörte es und fragte sie: »Wer ist das?« Die Frau antwortete: »Wahrhaftig, Mann! Ein Fremder ist gekommen, und ich nahm ihn Gott zu liebe auf.« Dann fiel aber der Frau ein: der Fremde weiss ja alles, was hier vorgegangen ist, und als daher der Mann zu ihr sagte: »Du hast ihn aufgenommen, dann rufe ihn auch zum Abendessen«, rief sie ihn zum Abendessen. Aber er sagte: »Ich komme nicht«, und nur mit Gewalt brachte sie ihn zum Aufstehen. Dann stand er auf, zog seinen Esel immer hinter sich her und trat in die Wohnung. Doch der Mann schrie: »Du da! lass doch den Esel draussen und tritt allein ein.« »Ohne meinen Esel kann ich nicht kommen«, antwortete er. »Du da! wie?« rief der Mann wieder, »die Wohnung ist mit Polstern ausgelegt, und da willst du deinen Esel hineinführen?« »Ohne meinen Esel kann ich nirgends hingehen«, antwortete er. Als er so sprach, fühlte die Frau ihre Wunden und sprach zu ihrem Manne: »Lass ihn doch eintreten, und mag er auch seinen Esel mit hereinführen.« Nun zog er seinen Esel hinter sich her und trat ein, und sie setzten sich hin, um zu essen. Als sie nun zu essen anfingen, gab er dem Esel[206] einen Backenstreich und sprach: »Du Unglücksesel! geh weg von mir, lass mich mein Abendbrod essen.« Da fragte der Hausherr: »Was sagt denn dein Esel?« »Ich weiss gar nicht«, antwortete er, »wohin ich auch gehen mag, habe ich nur Kränkungen von ihm.« – »Aber was sagt er denn?« – »Aussagen thut er nichts, aber alle geheimen Dinge weiss er.«7 – »Also was sagt er?« – »Trauer über ihn und seine Sippe!« rief der Mann. »Sieh doch, was er will!« bat der Hausherr. Da neigte er sich zum Esel hin und sprach: »Väterchen! er sagt: Es steht eine Schüssel Japrach unter dem Korb.«8 »He, Frau! ist die Angabe wahr?« fragte der Mann seine Frau. »Jawohl, Papachen«, antwortete sie. »Meine älteste Schwester hatte mir eine Schüssel Japrach gebracht; er wollte mir aber nicht die Kehle hinunter ohne dich, und da dachte ich mir: ›Mag er bleiben bis mein Mann nach Hause kommt. Jetzt aber hatte ich es vergessen‹.« »Dann auf! bring' ihn her«, sagte der Mann, »damit wir ihn essen.« Da stand die Frau auf, brachte ihn und setzte ihn ihnen vor. »Iss«, sagte der Mann, und sie machten sich daran, ihn zu verzehren.

Aber wiederum schüttelte der Besitzer des Esels den Kopf und sprach: »Habt ihr nun so etwas gesehen? He! lass deine Geschichte, du Unglücksesel.« »Was sagt er denn nun?« fragte der Hausherr. »Er sagt«, erwiderte der Mann, »dass eine Schüssel Kubebe unter dem Korbe steht.« – »He, Frau! ist die Angabe wahr?« fragte der Mann. »Was ist dir, Mann«, meinte sie, »er hat recht. Meine mittlere Schwester brachte mir eine Schüssel Kubebe; du warst aber nicht zu Hause und daher wollte es mir nicht die Kehle hinunter. Da sagte ich mir: ›Mag es bleiben, bis mein Mann kommt‹, und jetzt hatte ich es vergessen. Was ist dir denn?« »Dann auf,« sagte der Mann, »bring sie her, damit wir sie[207] essen.« Die Frau stand auf, brachte sie, und er sagte zum Fremden: »Iss.« Sie begannen zu essen, und wiederum schüttelte der Besitzer des Esels den Kopf. »Was giebt es denn wieder?« fragte der Hausherr. »Ich weiss gar nicht«, erwiderte er. »Von diesem Esel werde ich noch wegeilen und in der weiten Welt umherschweifen. Wohin ich auch gehen mag, lässt er mir mein Herz nicht in Ruhe, dieser Unglücksesel.« »Nun wohl, was sagt er jetzt?« fragte der Hausherr. Da neigte er sein Ohr zum Esel hin und sprach: »Was willst du jetzt?« Dann wandte er sich um und sprach: »Der Esel sagt folgendes: ›Es steht eine Schüssel Reis mit Fleisch unter dem Korbe‹.« »He! ist es so?« fragte der Mann die Frau. »Jawohl, er hat recht«, antwortete sie. »Meine jüngste Schwester hat mir eine Schüssel Reis gebracht; du warst aber nicht zu Hause, und da ging er mir nicht die Kehle hinunter ohne dich. Da hob ich ihn auf und sagte mir: ›Bis mein Mann kommt‹; jetzt aber habe ich es vergessen.« »Dann auf! bring' ihn her«, sagte er, »lass uns auch diesen essen.« Dann begannen sie zu essen und hatten so ein solennes Abendbrod.

Hernach setzten sie sich hin. Da spreizte aber der Esel seine Beine auseinander, um Wasser zu lassen. »Du da, auf!« schrie der Hausherr, »führe deinen Esel hinaus, damit er nicht auf das Polster Wasser lässt.« »Ich führe ihn nicht hinaus«, sagte der Mann, »er kann hier Wasser lassen.« »Du«, rief der Hausherr wieder, »ich sage dir doch: ›Steh auf und führe deinen Esel hinaus‹, wenn nicht, versetze ich ihm eins mit dem Stock.« – »Wenn du ein Mann bist, rühre nur den Esel an«, erwiderte der andere, »wenn du den Esel schlägst, dann schlage ich hier auf deinen Bottich und zertrümmere ihn.« Da begann der Esel Wasser zu lassen, und der Hausherr sprang auf und schlug den Esel mit einem Stocke. Da hieb auch der Besitzer des Esels mit einem Stocke auf einen Bottich und zerbrach ihn. Als der Hausherr sah, dass er ihm einen Bottich zerbrochen hatte, wurde[208] er wütend und versetzte dem Esel einen zweiten Schlag. Da schlug der andere mit einer Keule auf den zweiten Bottich und zerbrach auch diesen, worauf der Hauswirt dem Esel wieder einen Schlag versetzte. Der andere gab dann einen Keulenschlag auf den [dritten] Bottich und zerbrach auch diesen. Da blickte der Hausherr hinter seinen Rücken und sah, dass drei säulenlange (?) Riesenkerle mitten in den Bottichen standen. »Wer sind diese?« fragte er. »Das sind die Liebhaber deiner Frau«, antwortete der Mann, »und der Esel sagte mir, dass sie dort verborgen sind.« – »Was sollen wir nun thun?« fragte der Mann? – »Nach deinem Belieben!« erwiderte er, »du bist der ältere Bruder und ich der jüngere. Du bist der Vater und ich der Sohn. Was du auch befiehlst – ich stehe dir zu Diensten!« Dann packten sie jene drei Männer, schlachteten sie ab, und auch die Frau schlachteten sie über ihnen ab. Dann stiegen sie in den Keller hinunter, gruben eine Grube aus, legten die vier hinein und setzten sich dann hin, um auszuruhen. Da fragte der Hausherr: »Willst du mir jetzt nicht deinen Esel verkaufen?« »Wie soll ich ihn dir verkaufen?« erwiderte der Mann. »Alle geheimen Dinge teilt er mir mit, und da sagst du: ›Gieb ihn mir.‹« »Gieb ihn mir«, bat der andere, »und ich gebe dir soviel du willst.« »Ein- für allemal«, erwiderte der Mann, »ich habe keine Absicht, ihn zu verkaufen; aber wir beide sind nun verwandt, und da soll meine Zunge sich nicht mit dir drehen. Nun, für wieviel willst du ihn haben?« Da sprach der andere: »Wenn du ihn mir überlässt, gebe ich dir tausend Piaster.« »Wie kannst du es nur über dich gewinnen«, rief der Mann aus, »zu sagen: ›Gieb mir deinen Esel für tausend Piaster!‹« – »Dann mag es um zweitausend sein.« – »Abgemacht, zwischen uns beiden giebt es keine Meinungsverschiedenheit. Auf, zahle!« Sofort stand der Mann auf und zählte ihm zweitausend Piaster auf. Da legte er sie in seinen Beutel und sprach: »Aber gieb acht auf das, was ich dir sage: Weil du dem Esel die drei[209] Schläge versetztest, wird er drei Tage nicht reden. Schliesse ihn vielmehr im Stall ein, lasse ihn da drei Tage, und so lange wirf ihm kein Futter vor und gieb ihm auch nicht zu trinken. Drei Tage musst du es so machen. Hernach führe ihn heraus, gieb ihm zu fressen und zu trinken, und er wird dir alle geheimen Dinge offenbaren.«

Der Mann entfernte sich dann mit seinem Gelde, begab sich auf den Markt, kaufte für das Haus ein und kehrte dann zu seiner Frau zurück. Er kam am Hause des Nachts an und rief der Frau zu: »Öffne die Thüre.« Sie antwortete: »Ich öffne sie nicht, gehe und sieh, wo du hinkommst.« »Du, Frau! öffne die Thür!« rief er wieder, »sieh, Gott hat mir etwas bescheert, ich bringe dir alles.« Doch die Frau glaubte es nicht und öffnete die Thüre nicht. Da stieg er auf das Dach und liess durch das Fenster ein Kopftuch und ein Paar Sandalen herunter. Als die Frau sah, dass ihr Mann die Wahrheit sagte, öffnete sie die Thüre, und er trat ein. Da sah sie, dass ihr Mann alle möglichen Hausgeräte mitgebracht hatte und dazu noch einen Beutel voll Geld. »Woher hast du dies, Mann?« fragte sie. Da antwortete er: »Wenn ich dir sage, ich sei ein Mann, sagst du ›nein.‹ Sieh nun, welche Mannesthat ich vollbracht habe!«

Der Färber, der den Esel gekauft hatte, brachte ihn im Stalle unter und liess ihn dort drei Tage ohne Futter. Da verendete der Esel, und seine Beine kamen in die Höhe. Als dann der vierte Tag kam, und er nach dem Esel sah, fand er ihn tot und bereits vertrocknet, mit den Beinen nach oben. »Zum Teufel!«, rief er aus, »wie hat mich doch der Hund und Hundessohn überlistet! Eine vierfache Blutschuld lud er mir auf den Nacken, und auch meine Habe nahm er und machte sich davon, und ich blieb hier auf dem Trocknen!«

1

Im Texte: »Geschichte eines Mannes und einer Frau«.

2

Weil jetzt nicht Nacht ist?

3

Randglosse in C: »d.h. das Klappern der Sandalen«.

4

In Weinblätter gewickelte Boulettes aus Hackfleisch und Reis. Vgl. BELOT, Voc. s.v. jabraḳ.

5

»Ein syrisches Nationalgericht aus gequollenen und gerösteten Weizenkörnern, Reis und feingehacktem Fleisch.« HARTMANN, Arabischer Sprachführer p. 322 a. Vgl. auch BELOT, Voc. s.v. kubbatun, PRSOC, KurdS. b p. 80 n. 3 und PERKINS Residence p. 230 l. 37 f.

6

Vgl. PRSOC. ṬAbd. St. XXXI Mitte.

7

So in A. B hat: »Er spricht sowohl, als auch kennt er alle geheimen Dinge«.

8

Vgl. oben p. 180 Anm. 2.

Quelle:
Lidzbarski, Mark (Hg.): Geschichten und Lieder aus den neuaramäischen Handschriften. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1896, S. 203-210.
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