11. [208] Singh Rajah1 und die kleinen listigen Schakale.
11. Singh Rajah und die kleinen listigen Schakale

Es wohnte einmal in einem großen Dschungel ein Löwe. Der war Rajah des ganzen Landes ringsumher, und er verließ täglich seine Höhle, die tief im Schatten des Felsen lag und brüllte mit lauter, zürnender Stimme. Und wenn er brüllte, erschraken die andereren Thiere des Dschungels, die ja alle seine Unterthanen waren, heftig und liefen ängstlich hin und her. Aber Singh Rajah packte sie mit seinen Krallen, tödtete sie und verschluckte sie zum Mittagsfressen.

So trieb er es eine lange, lange Zeit hindurch, bis schließlich, ein paar kleine Schakale ausgenommen, sich keine lebenden Wesen mehr im Dschungel befanden. – Ein Rajah Schakal und eine Ranee Schakal, – ein Männchen und ein Weibchen.

Die armen kleinen Schakale verlebten trübe Tage, bald[209] liefen sie hierhin bald dorthin, um dem schrecklichen Singh Rajah zu entwischen; und täglich sagte die kleine Ranee Schakal zum Männchen: »Ich bin voller Angst, er wird uns heute sicher fangen. Hörst Du sein Gebrüll nicht? O Himmel o Himmel!« Dann aber bekam sie zur Antwort: »Fürchte Dich nicht. Ich will Dich beschützen. Laß uns ein paar Meilen weit weglaufen. Komm komm, – schnell, schnell schnell«. Und dann rannten sie beide, so flink sie nur eben konnten, auf und davon.

Nachdem sie einige Tage auf diese Weise zugebracht hatten, bemerkten sie indessen eines schönen Tages, daß der Löwe ihnen so nahe war, daß sie nicht mehr zu entfliehen vermochten. Da sprach die kleine Ranee Schakal: »Mein Herzensmann, ich fürchte mich so sehr! Der Singh Rajah ist so ärgerlich, er wird uns sicher alle beide auf einmal tödten. Was fangen wir nun an?« Das Männchen aber erwiderte: »Sei guten Muthes. Wir können uns vielleicht doch noch retten. Komm, ich will Dir zeigen, was wir machen wollen. –«

Was aber thaten nun diese beiden kleinen, listigen Schakale? Sie liefen in die Höhle zum großen Löwen! Als der sie kommen sah, fing er an zu brüllen und seine Mähne zu schütteln. Dann sprach er: »Ihr kleinen elenden Wichte, kommt, laßt Euch sofort fressen. Drei volle Tage lang hatte ich kein Mittagsessen, und die ganze Zeit hindurch bin ich über Thal und Hügel gerannt, um Euch zu finden. Rooor! Rooor!

Kommt, sage ich, laßt Euch fressen.« Dann schwang er den Schweif, fletschte die Zähne und sah wirklich schreckenerregend aus. Da kroch der Schakalrajah nahe an ihn heran und sprach: »O großer Singh Rajah, wir alle wissen, daß Du unser Herr bist, und wir würden Deiner Aufforderung schon viel früher gefolgt sein, aber denkt Euch, Herr, hier im Walde lebt noch ein größerer Rajah als Ihr. Er versucht es immer[210] uns zu fangen und zu fressen, und er hat uns so in Furcht versetzt, daß wir nicht umhin können fortzulaufen.«

»Was meinst Du damit?« brummte Singh Rajah. »Hier in diesem Dschungel bin ich der einzige König!« »Ach Herr«, entgegnete der Schakal, »das sollte man glauben, denn Ihr seid wirklich schrecklich genug! Eure Stimme schon ist todtbringend. Und doch sagen wir die Wahrheit, denn wir haben Einen mit unsren eignen Augen gesehen, dem selbst Ihr nicht gewachsen seid. Ihr gleicht ihm nicht mehr, als wir Euch. Sein Antlitz ist flammendes Feuer; seine Schritte dröhnen wie Donner und seine Kraft übersteigt alles.« »Das ist unmöglich«, unterbrach ihn der alte Löwe. »Zeige mir doch diesen Rajah, von dem Du so viel Rühmens machst; ich werde ihn augenblicklich vernichten.«

Darauf liefen die kleinen Schakale vor ihm her, bis sie einen großen Brunnen erreichten, und dann zeigten sie ihm sein eignes Spiegelbild im Wasser und sprachen: »Seht Herr, hier wohnt der schreckliche König, von dem wir Dir erzählten.«

Als Singh Rajah in den Brunnen hinabsah, ergrimmte er, denn er meinte dort unten einen anderen Löwen zu erblicken. Er brüllte und schüttelte seine dichte Mähne, und das Löwenschattenbild schüttelte die seinige und sah ihn entsetzlich herausfordernd an. Da gerieth schließlich Singh Rajah außer sich vor Wuth über die Gleichgültigkeit seines Gegners und sprang hinunter, um ihn sofort zu erwürgen. Aber dort unten war kein Löwe, nur das trügerische Spiegelbild, und die Seitenwände des Brunnens waren so steil, daß er nicht wieder hinaufklimmen konnte, um die beiden kleinen Schakale, die neugierig über den Rand guckten, zu bestrafen. Nachdem er einige Zeit mit dem tiefen Wasser gekämpft hatte versank[211] er, um nie wieder emporzutauchen. Die kleinen Schakale aber warfen Steine auf ihn herab, tanzten rings um den Brunnen herum und sangen: »Ao, Ao, Ao, Ao, der König des Waldes ist todt! Den großen Löwen, der uns fressen wollte, haben wir getödtet. Ao, Ao, Ao, Kling, klang gloria, Kling, klang gloria! Ao, Ao, Ao!« –

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Löwenkönig.

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 208-212.
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