8. Weniger Ungleichheit, als man glaubt.
8. Weniger Ungleichheit, als man glaubt

[171] Ein junger Rajah sagte einst zu seinem Wuzeer: »Woher kommt es, daß ich so oft krank bin? Ich nehme mich sehr in Acht; ich gehe nie in den Regen; ich trage warme Kleider, und ich esse gutes Essen. Dessenungeachtet erkälte ich mich immer, oder bekomme Fieber, – allen Vorsichtsmaßregeln zum Trotz.«

»Allzu viele Sorgfalt schadet mehr, als gar keine«, entgegnete ihm der Wuzeer, »das will ich Euch bald beweisen.«

Nun forderte er den Rajah auf, einen Spaziergang mit ihm auf das Land zu machen. Nach einer kleinen Weile begegnete ihnen ein armer Schäfer. Der war gewohnt den ganzen Tag unter freiem Himmel zuzubringen und seine Heerde zu hüten. Der einzige grobe Rock, den er anhatte, schützte ihn gegen den Regen und die Kälte, – gegen den Nachtthau und die heiße Sonne. Seine Nahrung bestand aus gedörrtem Korne und Wasser; und seine Wohnung war eine aus Palmenzweigen erbaute Hütte. Der Wuzeer sprach zum Rajah: »Ihr wißt es recht gut, welch ein saures Leben diese armen Hirten führen. Rede den Mann hier an und frage ihn, ob er von den Unannehmlichkeiten, die sein Beruf mit sich bringt, viel zu leiden hat.«

Der Rajah befolgte den Rath des Wuzeers und fragte den Schäfer, ob er nicht oftmals an Rheumatismus, Erkältung und Fieber leide. Der Schäfer antwortete: »Nein Herr,[172] ich leide weder an dem einen, noch an dem anderen. Ich lernte von Kindheit an außerordentliche Kälte und Hitze ertragen. Vermuthlich ist das der Grund, weßhalb sie mir nicht mehr schaden.«

Der Rajah war hierüber sehr erstaunt und sagte zum Wuzeer: »Ich muß gestehen, das überrascht mich. Zweifelsohne ist dieser Schäfer ein ganz besonders kräftiger Mann, den überhaupt nichts anfechten würde.« »Das wird sich finden«, sagte der Wuzeer und lud den Schäfer ein mit in das Schloß zu kommen. Dort wartete man seiner eine lange Zeit hindurch mit großer Sorgfalt. Er durfte weder in den Regen noch in die Sonne gehen, bekam gutes Essen und gute Kleidung und durfte nicht im Zug sitzen oder sich nasse Füße holen. –

Nach einigen Monaten ließ ihn der Wuzeer in einen mit Marmor gepflasterten Hof rufen, dessen Steine er mit Wasser hatte besprengen lassen.

Der Schäfer, der seit einiger Zeit durchaus nicht mehr solche Widerwärtigkeiten gewohnt war, erkältete sich in Folge seiner nassen Füße. Der Ort erschien ihm im Vergleich mit dem Palaste feucht und kühl. Sein Unwohlsein verschlimmerte sich, und nach einer kurzen Zeit starb er, trotz aller ärztlichen Bemühungen.

»Wo ist unser Freund, der Schäfer?« fragte ein paar Tage später der Rajah. »Ganz gewiß hat er sich durch das Betreten des Marmorbodens, den Du mit Wasser besprengen ließest, keine Erkältung zugezogen.« »Doch, leider,« antwortete der Wuzeer. »Die Probe ist unglücklicher ausgefallen, als ich erwartet habe. Der Schäfer erkältete sich und nun ist er todt! Man hatte ihn in letzter Zeit allzusehr gehütet und gepflegt; er war verwöhnt, und der plötzliche Temperaturwechsel tödtete ihn.«[173]


8. Weniger Ungleichheit, als man glaubt

»Ihr seht hieraus, daß wir Gefahren ausgesetzt sind welche die Armen nicht kennen. Mutter Natur gleicht auf diese Weise ihre besten Gaben aus. Reichthum und Wohlleben untergraben nur zu oft unsre Gesundheit und verkürzen uns das Leben, obgleich wir uns, so lange dasselbe dauert, auch wieder vielfache Genüsse zu verschaffen im Stande sind.«

Quelle:
Frere, M[ary]: Märchen aus der indischen Vergangenheit. Hinduistische Erzählungen aus dem Süden von Indien, Jena: Hermann Costenoble, 1874, S. 171-174.
Lizenz:
Kategorien: