Seite 137. Der Dipmal oder Lichterthurm ist ein wesentlicher Bestandtheil jedes großen Hindutempels. Er ist oft von bedeutender Höhe und mit Nischen oder Schnöckeln geschmückt.[373] Bei Festlichkeiten versieht man dieselben mit Lichtern. Das geschieht besonders im Herbst an dem zu Ehren der Göttin Bowani oder Kali gefeierten Dewali- oder Lampenfeste, bei welcher Gelegenheit man sich in früheren Zeiten die Göttin durch Menschenopfer geneigt zu machen suchte. –
Seite 141. Die Geschichte von Vicram's Aufopferung ist durch und durch hindustanisch. Unter den Hindus herrscht allgemein die feste, für uns Europäer unbegreifliche Ueberzeugung, daß ein besonders verehrter Gott durch heißes Flehen und völlige Hingabe bewogen werden kann, seinem Geweihten eine fromme oder opferbereite Handlung anzugeben, durch deren Ausführung er sich die Verwirklichung seiner Wünsche sichert. Die Art der Aufopferung und der Zweck des Gottgeweihten sind oft sehr trivial. Zuweilen aber hören wir mit starrem Staunen von irgend einer entsetzenerregenden That, einem Menschenopfer oder einer überlegten Selbstopferung, die denen unerklärbar ist, die nicht wissen, daß dies nur eine etwas außergewöhnliche Kundgebung eines Glaubens ist, der noch immer das tägliche Benehmen der meisten unserer hindustanischen Mitbürger beeinflußt. – Und selbst die Europäer, welche die Hindus lange und genau kennen, unterschätzen häufig den Umfang, den dieser Glaube auf die Sittlichkeit des gewöhnlichen indischen Lebens und Handelns ausübt. Um ein wohlbekanntes geschichtliches Beispiel anzuführen, so würde ein europäischer Reisender erwarten, daß alle Welt über die Ermordung des Afzul Khan, des Generals der königlich delhischen Armee, das Verdammungsurtheil aussprechen werde. Der Mörder Sivajee, der Gründer des Maharatten-Reiches, hatte einer bekannten Erzählung zu Folge, sein Schlachtopfer zu einer freundschaftlichen Besprechung eingeladen, und als sie sich beim Empfang umarmten, erdolchte er ihn mit einem Wag-Nuck1.[374] Das war eine solch' überlegte und grausame Verrätherei, daß sie in Europa selbst unter den eifrigsten Fürsprechern der politischen Attentate nur wenige Vertheidiger finden könnte. Deßhalb ist ein Europäer selten darauf vorbereitet, diese That von den Maharatten meistens als eine empfehlenswerthe, fromme Handlung preisen zu hören. Ein hindustanisches Gewissen verdammt den Mord und die Verrätherei eben so nachdrücklich, wie ein europäisches, aber diese That war nach den Ansichten der echten alten Maharatten ein Opfer, welches die schreckliche Göttin Bowani ihrem neuen Anbeter durch eine unmittelbare Offenbarung vorgeschrieben hatte. Sie war deßhalb äußerst verdienstvoll, und die schöne genueser Klinge, die Sivajee immer trug, und mit der er seinem Schlachtopfer schließlich den Todesstreich gab, wurde bis auf diesen Tag herab in dem Schlosse seiner Nachkommen in einer eigenen Tempelhalle aufbewahrt und alljährlich von ihnen und den ihrigen angebetet. Das war keine bloße Ehrerbietung, die sie dem tapferen Schwert ihres Ahnherrn zollten, nein, es war in ihren Augen das ausgewählte Werkzeug einer großen Opferthat, und es unterlag keinem Zweifel, wie der es aufbewahrende Diener zu sagen pflegte, daß noch immer etwas von dem Geiste der Bowani in demselben wohnen müsse.
Derjenige, der aufmerksamen Blickes das ihn umgebende, tägliche, indische Leben beobachtet, wird fortwährend Belege finden, von diesem Glauben an die Wirksamkeit der Opfer, die sogar[375] im Stande sein sollen, das vom Schicksal Verhängte abzuwenden. Mit aus diesem Grunde entstehen die langen Pilgerfahrten, die ein so allgemeines Kennzeichen hindustanischen Lebens sind. Gehäufte Beweise von der Herrschaft dieses Glaubens liefern uns die indischen Zeitungen und Gerichtsakten. Wir finden in derselben von beabsichtigten Wittwenverbrennungen, Selbstopferungen und sogar von Menschenopfern, die den oben beschriebenen gleichen. – Wir müssen daran gedenken, daß ein Hinduopfer nur den Namen mit den Opfern gemeint hat, die wir als einen hervorragenden Religionsgebrauch bei den Semniten finden. Manche schwierige Fragen, die den Erforscher wahrhaften Hinduwesens umringen, würden vermieden werden, wenn dieser wesentliche Unterschied immer bekannt oder bedacht würde.
Seite 144. Dieser Glaube an »Muntrs« oder gewisse Wortformeln, die eine unbegrenzte Macht haben, wenn sie der, dem sie von einem höheren Wesen mitgetheilt sind, richtig hersagt, – ist dem Glauben an die Wirksamkeit der Selbstopferung nahe verwandt und ebenso verbreitet, wie dieser. Ueberall bei jeder indischen Nation findet man, trotz ihrer verschiedenartigen Religionsbekenntnisse und Kasten-Gebräuche den, von der überwiegenden Mehrzahl jeder Hindu-Classe und -Kasten angenommenen Glauben, daß es Wortformeln giebt, (Muntrs), welche um wirksam zu sein, mündlich überliefert werden müssen. – Die dann aber, wenn sie auf diese Weise von einem der »zweimal Geborenen« mitgetheilt sind, eine unumschränkte Macht über alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge haben, ja selbst die Götter und das Schicksal zum Gehorsam zu zwingen vermögen. Da selbstverständlich die Ausübung einer solchen Macht selbst den Weisesten Gefahr bringen kann, so beschränkt sich der Versuch gewöhnlich nur auf die Angelegenheiten des täglichen Lebens.[376] An die unumschränkte Allmacht aber der Muntrs zweifeln wenige echte, noch nicht unter dem europäischen Einflusse stehende Hindus, und es giebt kaum einen Theil ihres Glaubens, der eine größere, durchdringendere und mächtigere Einwirkung ausübt, wie dieser, obgleich derselbe von den Europäern nur selten recht verstanden wird.
Den Lesern alter Schriften werden verschiedene Andeutungen eines ähnlichen Glaubens einfallen, der einen Theil des Glaubensbekenntnisses ausmacht, welches von Osten her eingeführt und zur Zeit des Kaiserreiches in Rom gebräuchlich war. Man findet vielfache seltene Belehrungen über die uns aus der frühesten Zeit bekannten Hindu Muntrs in den »Aitareya Brahmana« des gelehrten Dr. Haug, dem einzigen Europäer der einem Hinduopfer vom Anfang bis zum Ende beiwohnte Derjenige Leser, der sich gern über diesen Gegenstand unterrichten möchte, thut wohl, das kürzlich erschienene Werk des Professors Max Müller zu Rathe zu ziehen.
Dasselbe würde ohne Uebertreibung durch den Namen »Ein Vorrathshaus von neuen Aufschlüssen über morgenländische Literatur und Religion« richtiger bezeichnet sein, als durch seinen bescheidenen Titel »Schnitzel aus einer deutschen Werkstatt«.
1 | Ein Instrument das diesen Namen wegen seiner Aehnlichkeit mit einer Tigerklaue trägt. Es besteht aus stark gebogenen Stahlklingen, die an einer Stange sitzen, welche vermittelst Fingerringe innerhalb der Hand ruht. Und zwar so, daß man sie nicht sieht, sobald die Hand geschlossen ist. Ist diese aber geöffnet, so bilden sie mit der Querstange und der Handfläche einen rechten Winkel. Die dadurch hervorgerufenen Wunden sind den von einer Klaue entstandenen ähnlich. |