12. Wie die Vögel einen König kürten

[26] Einstmals saßen die Vögel alle beisammen und ratschlagten, wie sie ihren König küren sollten. Sie redeten lange hin und her. Endlich einigten sie sich und sagten: »Wir wollen zum Himmel emporfliegen. Wem es gelingt, bis an den Himmel heranzukommen und ein Stückchen der Himmelswand mitzubringen, der soll König sein.«

Alle Vögel stimmten dem Vorschlage bei.

Der schlaue Kolibri holte sich vor dem Wettfluge ein Stückchen weißglänzende Rinde von einer Palme [Salé-Baum], das er zwischen seinen Flügeln verbarg.

Auf ein Zeichen hin flogen die Vögel zum Himmel empor.

Unterwegs wurde der Kolibri rechtschaffen müde und sagte: »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht weiter! Buzeros, nimm mich auf deinen Rücken.«

Gesagt, getan! Der Buzeros spürte den Kolibri nicht im geringsten.

Schließlich war es auch mit den Kräften des Buzeros und der andern Vögel zu Ende. Sie waren zu sehr erschöpft. Einer nach dem andern kehrte um und flog wieder nach der Erde zurück.

Als der Buzeros heimfliegen wollte, flog der Kolibri auf und rief den andern Vögeln zu: »Was? Ihr wollt schon wieder heim? Voran, folgt mir doch!« Die Vögel waren jedoch zu müde und matt, um ihm noch weiter folgen zu können.

[26] Der Kolibri flog daher allein weiter, doch erreichte auch er den Himmel nicht.

Schließlich kehrte auch er um, flog zur Versammlung zurück und zeigte ihr triumphierend das Stückchen Baumrinde. »He! Schaut her! Ihr habt's nicht gekonnt. Nur ich erreichte den Himmel. Seht, hier ist ein Stückchen von der Himmelswand!«

Viele Vögel, auch der Buzeros, sprachen da: »Was! Wir konnten nicht zum Himmel kommen, und nun will ein so winziger Wicht den Himmel erreicht haben und gar unser König sein?«

Und sie redeten wieder alle miteinander und sagten: »Wir lassen uns diesen König nicht gefallen. Wir werden ihn verjagen. Denn ein solcher Knirps kann doch nicht über uns König sein.«

So jagten die Vögel den Kolibri fort. Er floh und verkroch sich in ein Mauseloch. Da konnten die Vögel ihm nicht beikommen.

Sie beriefen darauf eine neue Versammlung. Darin sollte ein Wächter gewählt werden. Und die Eule wurde zum Wächter bestellt, sie hatte die größten Augen. Sie sollte das Mauseloch bewachen. Als sie dies eine Weile getan hatte, wurde sie schläfrig, sie nickte mit dem Kopfe, tiefer, immer tiefer und schlief endlich ganz fest ein. Wie der Kolibri das merkte, kam er schnell aus dem Loche heraus und flog fort.

Drauf kamen die Vögel und fragten: »Weshalb hast du nicht Wache gehalten und aufgepaßt?«

Die Eule gab ihnen keine Antwort, sondern flog davon. Da taten die Vögel sich zusammen und setzten hinter ihr her. Doch versteckte sie sich in einem Dickicht von Lianen, Winden und Kriechern.

So konnten die Vögel nicht an sie herankommen. Aber auch die Eule darf sich nicht mehr am Tage sehen lassen. Sie fliegt nur bei Nacht. Denn sie fürchtet ihre Feinde.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 26-27.
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