17. Der Zwerghirsch im Loch

[59] Eines Tages ging der Zwerghirsch in den Dschungeln spazieren und fiel dabei in ein tiefes Loch. Er konnte nicht wieder herauskommen.

Nach einer Weile kam der wilde Ochse nach dem Loche, und als er den Zwerghirsch erblickte, sagte er: »Na, Zwerghirsch, was machst du denn da?« – »Oh,« antwortete der Zwerghirsch, »ich besuche hier nur meine Mutter, meinen Vater, meine Schwestern und Brüder.« – »Warte einen Augenblick,« sagte der wilde Ochse, »ich komme hinunter, denn ich [59] möchte meine Eltern und Geschwister auch sehen.« Doch der Zwerghirsch bat den Ochsen, nicht herunter zu kommen. Darauf erwiderte der wilde Ochse, wenn er das noch einmal sagen würde, ließ er sich von oben auf ihn fallen, und dann müßte der Zwerghirsch sterben. Da erlaubte der Zwerghirsch dem Ochsen, ins Loch hinabzusteigen, und der Ochse kam herunter. Als er unten war, fragte er den Zwerghirsch: »Sag', wo sind denn meine Eltern?« – »Warte ein Weilchen,« versetzte der Zwerghirsch, »ich habe sie gerade im Augenblick aus dem Gesichte verloren.« Der Ochse wartete, und nach einiger Zeit erschien das Rhinozeros am Loche und erkundigte sich, was sie da machten. Der Zwerghirsch antwortete wie vorher, daß er sich freute, seine Eltern sehen zu können, außerdem wären auch eine Menge Schafe unten. Darauf begab sich auch das Rhinozeros nach unten. »Denn,« so sprach es, »mein Vater und meine Mutter sind tot, und ich würde sie gern sehen und mich bei ihnen erkundigen, ob sie wieder lebendig geworden sind.«

Dann kam der Hirsch und fragte, was sie da machten. Und der Zwerghirsch erwiderte, daß er seine Eltern besuchte, und daß viele Leute sich da unten zu einer Reise rüsteten. Darauf sprang auch der Hirsch hinunter. Hernach kam das Reh, und als es vom Zwerghirsch dieselbe Antwort erhalten hatte, stieg es ebenfalls hinab.

Da nun die andern Tiere, eines auf dem Rücken des andern, standen, der wilde Ochse ganz unten, das Reh oben, vermochte der Zwerghirsch von des einen auf des andern Nacken zu hüpfen und so aus dem Loche herauszukommen.

Als er draußen war, traf er einen Jäger mit seinem Hunde. Der Hund setzte sogleich hinter dem Zwerghirsch her. Der lief nach dem Loche, rannte dort ein-, zweimal herum und machte dann, daß er fortkam. Der Hund folgte dem Geruche des Zwerghirsches, kam nach dem Loch, und als er dort den wilden Ochsen und die übrigen Tiere sah, machte er Halt und bellte. D'rauf kam der Jäger und tötete sie allesamt. Nur der Zwerghirsch war entronnen.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 59-60.
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