5. Der Tiger und der Schatten

[39] In den Dschungeln befand sich eine Salzlecke, zu welcher sonst alle Tiere des Waldes sich gern begeben hatten. Aber nun fürchteten sie sich, denn seit einiger Zeit hauste dort ein alter Tiger, der täglich eins von ihnen tötete. Eines Tages sagte P'lando, der Zwerghirsch, zum Tiger: »Vetter, warum erlaubst du mir nicht, dir täglich einen Braten zu bringen, dann brauchtest du ja gar nicht auf die Jagd zu gehen?« Dem Tiger gefiel der Vorschlag, und so begab sich P'lando zu den Tieren, um mit ihnen zu beratschlagen. Doch gelang es ihm nicht, eins von ihnen zu überreden, mitzukommen; nach drei Tagen zog er wieder ab, und in seiner Begleitung befand sich nur Kuwis, ein kleines Flugeichhörnchen. Als sie beim Tiger waren, sagte P'lando: »Ich konnte dir kein anderes Tier mitbringen, denn der Weg wird von einem alten, dicken, fetten Tiger versperrt, auf dessen Kopf ein kleines Flugeichhörnchen sitzt.« Als der Tiger das hörte, rief er: »Auf! Den wollen wir suchen und forttreiben.« Die drei machten sich auf die Beine; das Flugeichhörnchen setzte sich auf den Kopf des Tigers, und der Zwerghirsch stieg ihm auf den Rücken. Als sie an einen Fluß kamen, zeigte der Zwerghirsch dem Tiger sein Ebenbild im Wasser und rief: »Schau hin! Da ist der alte, dicke, fette Tiger, von dem ich dir erzählte.« Als der Tiger das hörte, sprang er ins Wasser, um sein eigenes Spiegelbild anzugreifen, und ertrank auf der Stelle.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 39.
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