[45] 12. Warum der Kasuar keine Flügel hat

Früher konnte der Kasuar, ganz wie andere Vögel, fliegen. Doch er büßte diese Fähigkeit ein. Das geschah auf folgende Weise. Als es eines Tages sehr regnete, saß der Kasuar auf einem Baum und ließ die Regentropfen von sich herunterrieseln. Da kam ein kleines Vögelchen zu ihm und sagte: »Großväterchen, hebe deinen Flügel doch ein wenig in die Höhe, damit ich darunterschlüpfen kann und nicht naß werde.« Der gutmütige Kasuar sagte ja, und das Vögelchen schlüpfte behende unter den einen Flügel. Doch es war ein arger Schelm. Es holte Nadel und Faden hervor und nähte den Flügel an dem Kasuar fest. Als es fertig war, sagte es wieder: »Großväterchen, bitte, laß mich unter den anderen Flügel schlüpfen, hier tropft es schon durch.« Der Kasuar war damit einverstanden, und das Vögelchen versteckte sich unter den anderen Flügel, den es nun ebenso wie den ersten festnähte.

Als der Regen vorbei war, und die Sonne wieder schien, sagte das Vögelchen: »So, nun wollen wir weiterfliegen, das Wetter ist ja wieder schön.« Damit schlüpfte es unter dem Flügel hervor und flog von bannen. Der Kasuar wollte ihm folgen; doch da bemerkte er zu seinem Schrecken, was das Vögelchen angerichtet hatte. So sehr er sich auch abmühte, die Flügel auszubreiten, es gelang ihm nicht, davonzufliegen. Er fiel zur Erde, und seit jenem Tage muß er sich beständig am Boden aufhalten.

[45] Der Kasuar war sehr böse und rief dem Vögelchen zu: »Warte nur, ich werden deinen Kot behexen, dann mußt du sterben!«

Wenn nun das Vögelchen ein Bedürfnis verrichten wollte, setzte es sich so in die Baumkrone, daß der Kot nicht auf den Boden fallen konnte; er blieb am Baum hängen, und der Kasuar konnte ihn nicht behexen. Allmählich zog sich der an den Ästen hängende Kot zu einem langen Faden aus und wurde zu einer Schlingpflanze mit prächtigen roten Blüten.

Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 45-46.
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