Zweites Märchen

[222] Vor langen Zeiten, als die Welt anders war, als sie jetzt ist, und die Geister noch in Verkehr mit Menschen traten, da war auf der lieblichen Insel Nauru ein junges Mädchen namens Ejiawanoko, die mit ihrer Großmutter unter einem sehr hohen Baume lebte. Dieser Baum hieß Inkumateri, und seine höchsten Zweige berührten den Himmel. Seine Zweige waren herrlich grün und so dicht, daß die Sonnenstrahlen sie niemals durchdringen konnten, und sie auch gegen den Regen ein gutes Dach bildeten.

Als die Großmutter ihre Enkelin heranwachsen sah, dachte sie daran, daß es Zeit sei, einen Mann für sie zu suchen, aber sie wußte nicht recht, wie sie es machen sollte.

Sie sagte sich, daß die Schönheit ihrer Enkelin sie berechtigte, einen Gott zu ehelichen. Da sie es nicht mehr hinausschieben [222] wollte, nach einem Mann Umschau zu halten, rief sie die Enkelin herbei und sprach zu ihr: »Ejiawanoko, du mußt nun daran denken, dich zu verheiraten, und da sind viele Männer, die um deinetwillen durch Feuer und Wasser gehen würden, aber ich habe schon für dich gewählt und will dir jetzt meine Vorschriften geben. Morgen früh, bevor die Sonne aufgeht, mußt du dich vom Lager erheben und dich für deine Reise vorbereiten. Salbe deinen Körper mit wohlriechendem Öle, und bekränze deinen Kopf und Oberkörper mit schönen Blumen. Darauf ersteige den Baum, unter welchem wir unser Heim haben. Du weißt, daß Stufen am Stamm bis zur Höhe reichen, obwohl noch niemand gewagt hat, ihn zu ersteigen, denn es würde sicheren Tod dem bringen, der dies unternehmen würde. Du aber kannst ohne Furcht gehen, denn die Zauberformel, welche ich über dich sprechen werde, wird dich vor Unheil bewahren, und alles wird gut gehen.«

Da antwortete Ejiawanoko: »Ich will hingehen, wohin du es wünschst, denn ich weiß, daß alles, was du für mich tust, zu meinem Besten ist.«

Nachdem die Großmutter ihre Zauberformel über sie gesprochen hatte, legten sich beide auf ihren Matten zur Ruhe. Zur bestimmten Zeit fand sich Ejiawanoko am Fuße des großen Baumes ein, mit schönen Blumen geschmückt und mit wohlriechendem Öl eingerieben. Dann rief sie ihre Großmutter, die sie umarmte und sagte: »Mein Liebling, kommst du zurück, so ist es mir lieb, wenn nicht, so weiß ich, daß du dich in guter Hut befindest.«

Nun erstieg das Mädchen den Baum, und getragen von der Zauberformel legte sie den Weg über die Zweige schnell und gefahrlos zurück. Als sie am Gipfel angekommen war, sah sie ein kleines Haus vor sich, neben dem ein altes, blindes Mütterlein saß, das Palmwein zu Sirup einkochte auf heißen Steinen in Kokosschalen. Es rührte eifrig, damit der Sirup nicht anbrenne. Das Mütterlein sang bei der Arbeit und zählte ihre Schälchen. Jedesmal, wenn sie mit Zählen[223] fertig war, nahm Ejiawanoko, die sich leise genähert hatte, eine Schale fort. Als es immer weniger Schalen wurden, rief die Alte: »Was ist das, es werden immer weniger Schalen!« Schließlich dachte das Mütterlein, die Schalen können nicht fortlaufen, jemand muß sie genommen haben, und bei der nächsten Gelegenheit griff es zu und erfaßte auch wirklich den Arm von Ejiawanoko, welche gerade im Begriff war, eine neue Schale fortzunehmen.

Die Alte rief: »Endlich habe ich dich, wer bist du, die du einer armen blinden Frau den Sirup stiehlst? Aber du wirst teuer dafür bezahlen, denn meine beiden Söhne Iguan (Sonne) und Merrimen (Mond) werden dich töten, wenn sie hören, daß du ihre Mutter mißhandelt hast!«

»O, hab Erbarmen, ich tat es nur aus Scherz,« sagte das geängstigte Mädchen, »bitte, vergib mir, ich will niemals wieder etwas Derartiges tun, bitte, laß meinen Arm los.«

Doch das Mütterlein hielt noch immer den Arm des Mädchens umklammert.

»Mein Name ist Eniburara, ich bin die Mutter von Iguan und Merrimen und koche Sirup für sie, wie ich es jeden Morgen tue, aber die Götter helfen dir, nun habe ich nichts für sie,« sagte das Mütterchen, »denn du hast die Schalen gestohlen!«

»O, liebe gute Eniburara, laß mich diesmal los, ich will alles für dich tun, ich will deine Dienerin sein und dir stets gehorchen.«

Die Alte antwortete: »Ich brauche keine Diener, das Wenige, was ich tue, tue ich aus Liebe zu meinen Kindern, ich selbst bedarf nicht Nahrung, Getränk und Schlaf.«

»O, laß mich gehen, vergib mir, liebe, liebe Eniburara, und dann sage ich dir ein Geheimnis, das meine Großmutter mir mitgeteilt hat!« – »Gut, törichtes Kind, sage, was es ist.« – »Ich kann deine Blindheit heilen!« – »Nein, nein! das kannst du nicht, jeder hat es versucht, und niemand ist es gelungen.«

Da ließ Eniburara den Arm des Mädchens los, worauf Ejiawanoko [224] das Gesicht der Alten in ihre beiden Hände nahm, und nachdem sie einige Worte gemurmelt hatte, in ihre Augen spuckte. Da krochen Eidechsen und Käfer aus den Augen der Alten, und nach wenigen Augenblicken konnte sie sehen.

Vor Freude klatschte sie in die Hände und rief: »Welch schöne Welt! Ich dachte stets, sie sei dunkel und häßlich, aber nun werde ich die Gesichter meiner lieben Söhne sehen können. Aber ich muß jetzt an dich denken, denn wenn ich dich nicht verberge, so werden Iguan und Merrimen dich sicherlich töten, denn sie töten jedermann, den sie treffen.« Darauf steckte sie Ejiawanoko unter einen großen, leeren Öltrog und sagte ihr, sie solle ganz still sein, denn Sonne und Mond würden gleich kommen.

Kurz darauf erschien Iguan in seinem Glanz und blendete seiner Mutter Augen so sehr, daß sie genötigt war, ihr Angesicht zu wenden. Als Iguan dies sah, fragte er die Mutter: »Warum drehst du dein Gesicht! Du tatest dies nie zuvor?« – »Weil ich dich jetzt sehen kann, mein lieber Sohn, was ich früher nie konnte.« – »Wieso, Mutter, wer vollbrachte dies Wunder?«

Als er dies fragte, kam sein Bruder Merrimen, und seine Mutter dachte, als sie ihn erblickte, wie sanft und milde er ausschaute im Vergleich mit Iguan, dem niemand ins Angesicht sehen könne.

Merrimen ging auf seine Mutter zu und sagte: »Wie kommt es, daß du uns anblickst, als ob du uns sehen könntest?«

»Ja, mein Sohn, ich kann sehen und dich anschauen, aber Iguan mit seinem Glanz tut meinen Augen weh.« –

»Aber, Mutter, was ist das für ein Duft? es riecht nach menschlichen Wesen!« – »Es ist so, meine Kinder, ein Menschenkind, ein junges, liebliches Mädchen ist in der Nähe, und sie ist es, die mich von meiner Blindheit geheilt hat. Das Mädchen ist so hold und schön, und ich denke, einer von euch soll es heiraten.«

»Ja, Mutter,« antworteten beide, »laß das Mädchen kommen [225] und wählen zwischen uns; wir wollen nicht eifersüchtig aufeinander sein«

Darauf ging Eniburara zum Öltrog, und als sie ihn hob, kam Ejiawanoko hervor. Eniburara nahm das Mädchen an der Hand und führte es zu ihren Söhnen und sagte: »Nun, Kind, triff deine Wahl, welchen von beiden willst du zum Manne haben?«

Ejiawanoko überlegte einige Augenblicke, sah Sonne und Mond an und sagte dann: »Ich kann Iguan nicht heiraten, er ist zu heiß, und ich kann ihn nicht ansehen, aber Merrimen sieht so ruhig und gut aus, ich will mit ihm gehen.«

Als das Mädchen so gesprochen hatte, kam Merrimen auf sie zu, legte seine Arme um sie und begann mit ihr durch die Luft zu segeln, und bis auf den heutigen Tag kann man Ejiawanoko sehen, wie sie mit Merrimen durch den Himmel reist.

Dies ist die Geschichte des Gesichtes im Monde.


Mädchen aus Nauru
Mädchen aus Nauru
Quelle:
Hambruch, Paul: Südseemärchen. Jena: Eugen Diederich, 1916, S. 222-226.
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